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Des Vetters Eckfenster

E. T. A. Hoffmann

Des Vetters Eckfenster ist eine Erzählung von E. T. A. Hoffmann, die vom 23. April bis 4. Mai 1822 in Symanskis Blatt „Der Zuschauer. Zeitblatt für Belehrung und Aufheiterung“[1] erschien.

Inhalt

Die Erzählung steht unter dem an ihrem Anfang und Ende zitierten Horaz-Spruch[2]: „Es wird, wenn es auch jetzt schlecht steht, doch einmal nicht mehr so sein.“

Der Ich-Erzähler besucht seinen kranken Vetter, einen Schriftsteller, in seiner Wohnung am Gendarmenmarkt in Berlin. Dieser hat „durch eine hartnäckige Krankheit den Gebrauch seiner Füße gänzlich verloren“ und kann seine Wohnung nicht mehr verlassen, doch von seinem Eckfenster aus überblickt er den „Theaterplatz“ und beobachtet das Treiben unterm Fenster. An diesem Markttag regt er seinen Gast an, sich an diesem Spiel zu beteiligen: Die Vettern stellen sich, angeregt durch die Gestik, die Gespräche der Marktfrauen und ihrer Kundinnen und Kunden vor und erweitern diese Dialoge in Verbindung mit der aufwändigen oder einfachen Kleidung der Personen zu phantasievollen Geschichten über deren Identität. An diesen Beispielen demonstriert der Schriftsteller das Verhältnis der Beobachtung über die Phantasie zur Literatur und bringt seinem jungen Besucher die „Kunst zu schauen“,[3] eine der Grundlagen der Schriftstellerei, nahe. Er erzählt dem Gast auch von einem Gespräch mit einer jungen Marktfrau, die er beim Lesen eines seiner Bücher beobachtet hat. Als er sich ihr stolz als der Autor des Werkes vorstellte, war ihre Reaktion für ihn ernüchternd, denn sie interessierte sich allein für die Romanhandlung und ihre Figuren und nicht für die literarische Produktion und deren Schöpfer.

Interpretationsansätze

Berlin: Gendarmenmarkt um 1815
  • E.T.A. Hoffmann ließ sich von einem Werk des Schriftstellers Karl Friedrich Kretschmann anregen. In „Scarron am Fenster“ sitzt der französische Autor Paul Scarron gelähmt – genauso wie der Vetter – am Fenster und porträtiert humorvoll die Passanten.[4]
  • Der Besucher geht bei dem kranken Schriftsteller am Eckfenster „in die Schule des Lebens“.[5]
  • Das Domizil des kranken Vetters stimmt mit der Lage von E.T.A. Hoffmans Wohnung im Eckhaus Taubenstraße 31/Charlottenstraße 56 überein. Vom Fenster aus blickt man auf den Gendarmenmarkt und das Schauspielhaus. Hier diktierte der gelähmte, todkranke Autor die am 14. April 1822,[6] zwei Monate vor seinem Tod, vollendete Erzählung.[7] „Nicht zu Unrecht hat man oft auf die autobiographischen Details verwiesen, in denen sich dem Leser der todkranke Dichter zu erkennen gebe, doch entspricht diesen autobiographischen Einzelheiten eine autobiographische Struktureinheit“: das Prinzip, „die Darstellung des Lebens unter dem Aspekt der Todesnähe als Gleichnis für das Leben selbst zu verstehen“.[8]
  • In ihrem Buch über Novellen-Theorie nimmt Hannelore Schlaffer[9] den Text als Exempel für die sogenannte physiologische Novelle. Gemeint ist die Gabe des Autors zum geglückten Herausgreifen eines beschreibungswürdigen Individuums aus der Menschenmenge.

Literatur (Auswahl)

Ausgaben (chronologisch)

  • E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden. Band 6. Aufbau-Verlag, Berlin 1958, S. 742–774.
  • E.T.A. Hoffmann: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Band 8. Aufbau-Verlag, Berlin, Weimar 1983.
  • E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Band 6. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2004.

Sekundärliteratur (chronologisch)

  • Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E.T.A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst. Niemeyer, Tübingen 1971.
  • Günter Oesterle: E.T.A. Hoffmann: "Des Vetters Eckfenster". Zur Historisierung ästhetischer Wahrnehmung oder Der kalkulierte romantische Rückgriff auf Sehmuster der Aufklärung. In: Der Deutschunterricht. 39 (1987), S. 84–110.
  • Ulrich Stadler: Die Aussicht als Einblick. Zu E.T.A. Hoffmanns später Erzählung "Des Vetters Eckfenster". In: Zeitschrift für deutsche Philologie. 105 (1986), S. 498–515.
  • Helmut Lethen: Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E.T.A. Hoffmann. In: Josef Strutz (Hrsg.): Robert Musils "Kakanien". Subjekt und Geschichte. Fink, München 1987, S. 195–229.
  • Hermann Korte: Der ökonomische Automat. E.T.A. Hoffmanns späte Erzählung "Des Vetters Eckfenster". In: Text + Kritik. Sonderband E.T.A. Hoffmann, 1992, S. 125–137.
  • Thomas Eicher: Mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes". Panoramatische Strukturen in "Des Vetters Eckfenster" von E.T.A. Hoffmann. In: Poetica 25 (1993), S. 360–377.
  • Rolf Selbmann: Diät mit Horaz. Zur Poetik von E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Des Vetters Eckfenster". In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch. 2 (1994), S. 69–77.
  • Andreas Schirmer: E.T.A. Hoffmann: Des Vetters Eckfenster. In: Bernd Leistner (Hrsg.): Deutsche Erzählprosa der frühen Restaurationszeit. Studien zu ausgewählten Texten. Niemeyer, Tübingen 1995, S. 66–86.
  • Lutz Hagestedt: Das Genieproblem bei E.T.A. Hoffmann am Beispiel illustriert. Eine Interpretation seiner späten Erzählung "Des Vetters Eckfenster" Brehm, München 1991. Belleville, München, durchgesehene und verbesserte Aufl. 1999.
  • Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Metzler, Stuttgart, Weimar 1993. ISBN 3-476-00957-2
  • Detlef Kremer: E.T.A. Hoffmann zur Einführung. Junius, Hamburg 1998, S. 164–176. ISBN 3-88506-966-0
  • Jürgen Gunia, Detlef Kremer: Fenster-Theater. Teichoskopie, Theatralität und Ekphrasis im Drama um 1800 und in E.T.A. Hoffmanns "Des Vetters Eckfenster". In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch. 9 (2001), S. 70–80.
  • Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2001. ISBN 3-596-14301-2
  • David Darby: The Unfettered Eye G.limping Modernity from E.T.A. Hoffmann's Corner Window. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 77 (2003), S. 274–294.
  • Gerhard Neumann: Blick und Dialog. Die Szene der Wahrnehmung in E.T.A. Hoffmanns Novelle "Des Vetters Eckfenster". In: Ethel Matala de Mazza, Clemens Pornschlegel (Hrsg.): Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte. Rombach, Freiburg im Breisgau 2003, S. 53–77.
  • Günter Oesterle: Des Vetters Eckfenster. Ein dialogischer Wechsel von Beobachten, Erraten und Erzählen. In: Günter Soße (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann, Romane und Erzählungen. Reclam, Stuttgart 2004, S. 256–270.
  • Stephan Papst: Ein "märchenhaftes Känguru". Physiognomik und Poetologie in E.T.A. Hoffmanns "Des Vetters Eckfenster". In: Athenrum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft. 14 (2004), S. 109–128.
  • Robert McFarland: Ein Auge, welches (Un)wirklich(es) schaut. "Des Vetters Eckfenster" und E.T.A. Hoffmanns Ansichten von Berlin. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch. 13 (2005), S. 98–116.
  • Gerhard Neumann: Ausblicke. E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung "Des Vetters Eckfenster". In: ders. (Hrsg.): ‚Hoffmanneske Geschichte.‘ Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, S. 223–242.
  • Detlef Kremer: Des Vetters Eckfenster (1822). In: ders. (Hrsg.): E. T. A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Walter de Gruyter, Berlin 2009, S. 394–406. ISBN 978-3-11-018382-5
  • Carlos Spoerhase: Die spätromantische Lese-Szene. Das Leihbibliotheksbuch als 'Technologie' der Anonymisierung in E.T.A. Hoffmanns "Des Vetters Eckfenster". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 83 (2009), S. 577–596.
  • Vance Byrd: Regarding the Cousin: Surveillance and Narration in Hoffmann’s Des Vetters Eckfenster. In: German Studies Review 35.2 (2012): 249–264.
  • Nicola Kaminski, Volker Mergenthaler: Zuschauer im Eckfenster 1821/22 oder Selbstreflexion der Journalliteratur im Journal(text). Mit einem Faksimile des "Zuschauers" vom April/Mai 1822. Wehrhahn, Hannover 2015. ISBN 978-3-86525-462-7

Einzelnachweise

  1. Kaminski, Mergenthaler 2015, Faksimile-Teil S. 1*–104*.
  2. Oden, 2. Buch, X, Vers 17 f.
  3. Hoffmann, Ausg. 1958, S. 746.
  4. Kaminski, Mergenthaler 2015, S. 75–88.
  5. Safranski 1991, S. 487.
  6. Hoffmann, Ausg. 1958, S. 887.
  7. Safranski 1991, S. 374.
  8. Wulf Segebrecht: Anmerkungen zu E.T. A. Hoffmanns Späte Werke. Winkler-Verlag München 1965, S. 891.
  9. Schlaffer 1993, S. 258.
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