Mit Vulgärlatein wird das gesprochene Latein im Unterschied zum literarischen Latein bezeichnet.[1] Deshalb wird synonym auch der Begriff Sprechlatein verwendet.[2]
Vulgärlatein war vor allem eine gesprochene und weniger eine geschriebene Sprache. Hieraus leitet sich ab, dass viele vulgärlateinische Wörter nicht belegbar oder belegt sind. Dennoch lassen sich etliche durch eine Rekonstruktion aus heutigen und älteren romanischen Sprachformen bzw. im Vergleich zum klassischen Latein aufgrund regelhaft auftretender Lautverschiebungen erschließen.[3]
Das Vulgärlatein ist der sprachliche Ausgangspunkt der romanischen Einzelsprachen. Im Gegensatz zu diesen war es aber keine einheitlich definierte Sprache, weder in sozialer noch in geographischer oder zeitlicher Hinsicht.[4] Auch ist Vulgärlatein nicht einfach mit „spätem“ Latein gleichzusetzen und als historische Sprachstufe aufzufassen, da es als Varietät des Lateins schon in den frühen Komödien des Plautus und des Terentius bezeugt ist und somit von einer frühen, bereits in altlateinischer Zeit einsetzenden Trennung von gesprochenem und geschriebenem Latein auszugehen ist, die später durch die Sprechgewohnheiten latinisierter Kelten und Germanen noch weiter vertieft wurde und im frühen Mittelalter schließlich zur Herausbildung der romanischen Sprachen führte.
Das gesprochene Latein als Vulgärlatein zu bezeichnen war bereits in der Antike üblich. Bei Quintilian findet sich bereits die Phrase sermo vulgaris, womit ein gewisses sprachliches Register gemeint ist.[5] Die Bezeichnung geht auf das lateinische Adjektiv vulgaris ‚zum Volke gehörig, gemein‘ zurück (sermo vulgaris ‚Volkssprache‘). Aus den etwas moderneren Bezeichnungen „Sprechlatein“ oder „Volkslatein“ wird aber deutlich, dass damit nicht zwangsläufig eine niedere Sprachform gemeint ist. Auch die Gebildeten sprachen Vulgärlatein.
Erschließen des gesprochenen Lateins
Da es aus alter Zeit keine Sprachaufnahmen gibt, muss das gesprochene Vulgärlatein erschlossen werden. Dazu dienen folgende Quellen und Befunde:
die schriftliche und onomastische Überlieferung zu den frühen romanischen Sprachen, aus deren Entwicklung man durch Rekonstruktion erschließen kann, wie das Sprechlatein, aus dem sie hervorgegangen sind, ursprünglich gesprochen wurde;
Angaben klassischer Autoren zum gesprochenen Latein wie in CicerosDe oratore (‚Über den Redner‘), in Suetons Ausführungen zu den Sprachgewohnheiten Kaiser Octavians und Vespasians oder (weit spätere) Angaben bei lateinischen Grammatikern, beispielsweise Appendix Probi;
Schreibfehler in Inschriften oder Graffiti (beispielsweise in Pompeji) sowie auf – zumindest fragmentarisch – original erhaltenen Papyri, etwa „Hec pvgnabet contra orsom …“ statt Hic pvgnabit contra vrsvm … („Dieser[6] wird … gegen einen Bären kämpfen“);
Normabweichungen in erhaltener Privatkorrespondenz, beispielsweise in Ciceros Atticus-Briefen;
literarische Werke, in denen bewusst gesprochenes Latein wiedergegeben werden soll; außer den genannten Komödien etwa der Schelmenroman Satyricon des Titus Petronius Arbiter;
christliche Texte, die literarisch-grammatische Eleganz als Ausdruck weltlicher Eitelkeit vermeiden und stattdessen einen „stilus humilis“ und Nähe zum gesprochenen Latein suchen, beispielsweise die Vulgata des Hieronymus; wegen des späten Entstehungszeitpunkts gilt zudem die Itineratio Egeriae, ein Pilgerbericht, als glückliche Quelle;
Entlehnungen aus dem gesprochenen Latein in andere Sprachen, beispielsweise Kaiser aus Caesar (gegenüber der Aussprache von später neuentlehntem Cäsar oder dem bulgarischen/russischen Herrschertitel Zar gleicher Herkunft), oder Transkriptionen in einem anderen Alphabet, Κικέρων Kikérōn in Griechisch für Cicero;
Glossen zu erläuterungsbedürftig gewordenen klassisch-lateinischen Wörtern oder Wortformen;
die Verslehre (lateinische Metrik) zeigt, dass z. B. anlautendes h- oder auslautendes -m kaum mehr gesprochen wurden.
die über Augustinus’ Schrift De doctrina Christiana für Karthago belegte Schwierigkeit, dass das Vokalrepertoire den Unterschied zwischen ōs ‚Mund‘ und os ‚Knochen‘ nicht artikulieren konnte.
die Bedeutungsverbesserung von lateinischen Wörtern, die in den romanischen Sprachen die Normalbedeutung ausdrücken; vgl. lat. caballus ‚Gaul‘ zu ital. cavallo, frz. cheval ‚Pferd‘; lat. bucca ‚Maul‘ zu ital. bocca, frz. bouche ‚Mund‘; manducare ‚mampfen‘ zu altital. mandicare, frz. manger ‚essen‘.
lateinische Diminutivbildungen, die – in gesprochener Sprache eher vertreten – in romanischen Sprachen in die Normalbedeutung aufrücken; vgl. genu und *genuculum zu ital. ginocchio ‚Knie‘; filius und filiolus zu frz. filleul ‚Patensohn‘, altital. figliuolo ‚Sohn‘; lat. caput ‚Kopf‘ und capitium zu span. cabeza ‚Kopf‘, frz. chevet ‚Kopfende, Bettseite‘.
hyperkorrekte Schreibweisen, die etwa in Inschriften Kenntnisschwund anzeigen: bspw. tempulum anstelle des korrekten templum in der Annahme, in der gesprochenen Sprache sei ein Vokal ausgefallen. Ähnlich möchte der Wechsel zwischen 'v' und 'b’ verfahren.
die Komparativbildung aus lat. magis in der Fortsetzung im Spanischen oder – in jüngerer Entwicklung – der Komparativ aus lat. plus im Italienischen und Französischen.
die zwischenzeitliche Bildung eines bestimmten Artikels aus dem Demonstrativpronomen ipse, wie er noch im Sardischen erhalten ist, während er in anderen Varietäten durch eine Bildung aus ille verdrängt wurde.
Hinweise auf Wechsel der Wortart infolge von denkbarem Gestikulieren, indem aus lat. hicce ‚hier‘ die ital. Objektpronomen ci ‚zu uns, uns, hierin‘ und aus lat. ibi ‚dort‘ die Objektpronomen vi ‚zu euch, euch, dort hin, darin‘ usw. hervorgegangen sein möchten.
Die Erschließung des Sprechlateins hängt ab von der Möglichkeit, die in solchen Quellen belegten Einzelphänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Lautgesetzlichkeit anhand von Regeln zu beschreiben und unter Berücksichtigung anderssprachiger Einflüsse sowie außersprachlicher (geschichtlicher, sozialer und geographischer) Faktoren zu erklären.
Vulgärlatein in der Sprachwissenschaft
„Vulgärlatein“ kann in der Sprachwissenschaft je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen haben:
Die vom klassischen Sprachgebrauch abweichenden Innovationen in spätlateinischen Texten (ab dem 2. Jahrhundert n. Chr.) können auf vulgärlateinischen Einfluss zurückgehen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht kann jedoch der Begriff Vulgärlatein nicht auf solche Innovationen beschränkt sein, weil das gesprochene Latein ja auch schon in früheren Zeiten neben dem geschriebenen existiert hat und die besten Quellen des Vulgärlateins (Komödien des Plautus, Terenz) gerade aus vorklassischer Zeit stammen.
In altlateinischer Zeit ist der Unterschied zwischen Sprech- und Schriftlatein noch vergleichsweise geringfügig. In klassischer Zeit, seit dem 3. Jahrhundert v. Chr., wird er durch die Normierung des Schriftlateins unter dem Einfluss des Griechischen – vermittelt durch griechische Sprach- und Rhetorik-Lehrer in Rom und durch die Nachahmung griechischer Literatur – verstärkt. Mit dem Wachstum und dem Zerfall (ab dem 3. Jahrhundert n. Chr.) des römischen Reiches und der Entstehung keltischer und germanischerOberschichten intensiviert sich diese Entwicklung, die in der latinisierten Bevölkerung zu einer irreversiblen Zweisprachigkeit – Sprechlatein als Mutter- oder Erstsprache gegenüber Schriftlatein als sekundär erworbener Verkehrs-, Amts- und Literatursprache sowie Sprache des Kultus – und damit zur Herausbildung selbständiger romanischer Sprachen aus dem regional diversifizierten Sprechlatein führt. Die entscheidenden Übergänge in dieser Entwicklung sind zuerst für Nordfrankreich, und zwar für die Zweisprachigkeit dokumentiert, spätestens durch das Konzil von Tours (813) und für die Selbständigkeit des Romanischen durch die Straßburger Eide (842).
Die erste wissenschaftliche Bestimmung des Begriffs Vulgärlatein wurde durch den RomanistenFriedrich Diez vorgenommen.
Problematisierung des Begriffes „Vulgärlatein“
Auch wenn es sich gemeinhin durchgesetzt hat, die gesprochene Varietät des Lateinischen als Vulgärlatein zu bezeichnen, empfinden manche Philologen es als hinderlich oder sogar irreführend. Nicht nur sei das Wort vulgär überwiegend negativ besetzt, Vulgärlatein suggeriere eine gänzlich andere Sprache als das klassische Latein, als hätte es im Römischen Reich schon zu klassischen Zeiten eine Diglossie gegeben. So wird das gesprochene Deutsch auch nicht als „Vulgärdeutsch“ in Abgrenzung zum Schriftdeutsch bezeichnet. Ebenso bezeichnet Vulgärlatein die gesprochene lateinische Sprache im gesamten Römischen Reich über einen Zeitraum von über 1000 Jahren, weshalb es sich als ausgesprochen schwierig herausstellt, allgemeingültige Aussagen zu treffen.
Der Philologe Paul M. Lloyd sammelte in einem Artikel verschiedene Definitionen des Vulgärlateinischen und stellte fest, dass die Begriffsextension äußerst weitreichend ist.[7] So wird in einem Werk Vulgärlatein als Latein der unteren Klassen oder als das Latein der Armen aufgefasst, in anderen hingegen als „wahres Latein“ im Gegensatz zur „künstlichen“ Schriftsprache. Seinen Artikel schließt er mit folgendem Fazit ab:
“I wish it were possible to hope that the term might go out of use. Many scholars have stated that ‘Vulgar Latin’ is a useless and dangerously misleading term, and yet it continues to find its way into introductory manuals and basic courses in Romance linguistics. Perhaps it is only by appealing to teachers that it may be possible to break the vicious circle that has characterized the use of the term for so long: students are introduced to the expression, are told that it has a particular meaning (often enough, idiosyncratic to the author or teacher), and then are left to discover for themselves, if they ever do, that it is used in different senses by others. Teachers have a responsibility to their students to tell them the truth, as far as they know it. At the very least, they must not misinform them. To tell them that ‘Vulgar Latin’ is a useful term, one with a clear-cut meaning, both misinforms and misleads them. To abandon it once and for all can only benefit scholarship.”
„Ich wünschte, es wäre möglich zu hoffen, dass der Begriff nicht mehr verwendet würde. Viele Wissenschaftler haben erklärt, dass ‚Vulgärlatein‘ ein nutzloser und gefährlich irreführender Begriff ist, und dennoch findet er weiterhin seinen Weg in Einführungshandbücher und Grundkurse der Romanistik. Vielleicht ist es nur möglich, den Teufelskreis zu durchbrechen, der die Verwendung des Begriffs so lange geprägt hat, indem man an die Lehrer appelliert: Die Schüler lernen den Ausdruck kennen, bekommen gesagt, dass er eine bestimmte (oft genug eine für den Autor oder Lehrer idiosynkratische) Bedeutung hat, und müssen dann, wenn überhaupt, selbst entdecken, dass er von anderen in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Die Lehrer sind ihren Schülern gegenüber verpflichtet, ihnen die Wahrheit zu sagen, soweit sie sie kennen. Zumindest dürfen sie sie nicht falsch informieren. Wenn sie ihnen sagen, dass ‚Vulgärlatein‘ ein nützlicher Begriff mit einer eindeutigen Bedeutung ist, werden sie sowohl falsch informiert als auch in die Irre geführt. Die endgültige Abschaffung dieses Begriffs kann für die Wissenschaft nur von Vorteil sein.“
So verschwand die klassisch lateinische Unterscheidung zwischen langen und kurzen Vokalen (Quantitätenkollaps). Wegen dieser Veränderung wurde die Betonung auf Tonsilben viel ausgeprägter als im klassischen Latein.
In der Folge entwickelten sich die Vokale bereits regional unterschiedlich weiter.
Ein vom klassischen Latein abweichender Konsonantenstand ist für die Periode vor dem Untergang des Römischen Reiches nicht belegt. Dennoch legen die modernen romanischen Sprachen eine Diversifizierung anhand von Substrat- oder Superstrateinflüssen nahe.
Beispielsweise werden in sämtlichen romanischen Varietäten nördlich des IsoglossenbündelsRimini-Spezia die intervokalischen, stimmlosen Verschlusslaute des Lateinischen sonorisiert oder schwinden vollständig (vgl. amicus, ital. amico, frz. ami und span. amigo). Rechnet man ein, dass Norditalien, das heutige Frankreich und die iberische Halbinsel ehedem keltische Siedlungsgebiete waren, so könnte über Substrateinfluss der vorgefundenen keltischen Sprachen und ihrer Sprecher befunden sein.
Für weniger wahrscheinlich gilt der Superstrateinfluss hinkommender Völkerschaften. Erwöge man Veränderungen durch die Germanen, so wäre deren Bevölkerungsanteil auch für die Zeit der germanischen Reichsgründungen nicht hinreichend zahlenstark gewesen. Dennoch könnte man die bezeichneten Gebiete nördlich der Linie Rimini-Spezia mit den Goten, Langobarden, Franken oder Vandalen in Beziehung setzen.
Wortschatz
Vulgärlatein kennt viele Wörter und (im Fall der letzten beiden Beispiele) Formen, die dem klassischen Latein fremd waren. Beispiele sind etwa:
Klassisch
Vulgär
Deutsch
sīdus, stēlla
stēlla
Stern
pulcher
bellus, formosus
schön
ferre
portāre
tragen
edere, ēsse
comedere, mandūcāre
essen
loqui
fābulari, parabolāre
sprechen
ludere
iocari
spielen
ōs
bucca
Mund
res
causa
Sache
magnus
grandis
groß
emere
comparāre
kaufen
equus
caballus
Pferd
esse
essere
sein
posse
potēre
können
Einige im Romanischen verloren gegangene Wörter wurden später als lateinische Lehnwörter allerdings wieder aufgenommen. So findet man hin und wieder im Neuromanischen gelernte Latinismen, die neben ihren volkstümlichen, ererbten Formen koexistieren. Beispielsweise wurde das lateinische fungus ‚Pilz‘ im Spanischen zu hongo, mit dem lautgesetzlichen Wandel von anlautendem f zu h; daneben gibt es aber auch fachsprachliches fungo ‚Fungus, Myzel‘, das im Mittelalter neu aus dem Latein übernommen wurde. Neben diesen zahlreichen Wortdoubletten gibt es sogar Worttripletten. So gehen auf das lateinische fabula die italienische fiaba ('Fabel'), die italienische favella ('Sprache') und die italienische favola ('Märchen', 'Erzählung') zurück.
Frühe Differenzierungen lassen sich an Wortschatzpräferenzen ablesen. Beispiel sei die Bezeichnung für 'schön', die in einigen romanischen Sprachen auf formosus zurückgeht, in anderen – mutmaßlich – auf *benellus bzw. bellus. In der Komparativbildung greift beispielsweise das Spanische auf die alte lateinischen Bildung mit magis zurück und nutzt eine ältere Möglichkeit. Eine Neuerung mag die Komparativbildung aus plus gewesen sein, wie sie im Italienischen und im Französischen vorliegt.
Beachtenswerterweise finden sich sprachliche Innovationen nahe an den Zentrallandschaften des Römischen Reiches, während sich in der Peripherie ältere Zustände erhalten haben.
↑Veraltet; nur noch in wenigen Redensarten, z. B. faire bonne chère ‚gut speisen‘, eigentlich ‚ein gutes Gesicht machen‘.
↑Eine Lehnübersetzung, d. h. ficatum, gebildet zu fīcus ‚Feige‘, nach dem altgriech. Vorbild von sykōtón ‚mit Feigen gemästete Gans mit besonders feiner Leber‘, zu sỹkon ‚Feige‘ gebildet.
Grammatik
Auftreten der bestimmten und unbestimmten Artikel
Das klassische Latein, dem über das Vulgärlatein indirekt auch alle romanischen Sprachenentstammen, verfügte noch über keine Artikel. Im Latein finden sich verschiedene Demonstrativpronomina, die auch alleinstehend gebraucht werden können, etwa ille ‚jener, der‘; ein Demonstrativ, das ursprünglich auf fern liegende oder allgemein bekannte Personen oder Gegenstände verweist. Im Vulgärlatein und später in den romanischen Sprachen nimmt nunmehr dieses Demonstrativum zum einen eine Entwicklung hin zum bestimmten Artikel, zum anderen aber wird es zum Personalpronomen verblassen (grammatikalisieren).
Im Vulgärlatein hat sich jedoch der Gebrauch des Demonstrativpronomens ille als definiter Artikel allmählich etabliert und wurde in den allermeisten romanischen Sprachen weiter ausgebaut.[10]
Der unbestimmte Artikel entwickelte sich in vielen Sprachen aus dem lateinischen Numerale (Zahlwort) für „1“ (lateinischūnus/ūna/ūnum (m./f./n.) ‚ein/eine/ein‘) und ist deshalb häufig mit diesem in der Form identisch.
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Die lautgesetzlichen Veränderungen im Vulgärlatein bewirkten verschiedene Zusammenfälle im Bereich der Flexionsendungen, indem etwa auslautendes m stumm wurde sowie kurzes a mit langem ā und kurzes u mit langem ō zusammenfiel. Die nachfolgenden Tabellen vergleichen den Zustand des klassischen Lateins mit demjenigen des Vulgärlateins und fügen je eine spätere Varietät hinzu, um die Fortentwicklung anzuzeigen.
Entwicklung der 1. Deklinationsklasse der Substantive: rosa ‚Rose‘ (Femininum Singular)
Klassisch (ca. 1. Jh.)
Vulgär (ca. 5. Jh.)
Vgl. Neu- rumänisch
Nominativ
rosa
*rósa
roză
Akkusativ
rosam
Ablativ
rosā
Dativ
rosae
*róse
rozei
Genitiv
Entwicklung der 2. Deklinationsklasse der Substantive: mūrus ‚Mauer‘ (Maskulinum Singular)
Klassisch (ca. 1. Jh.)
Vulgär (ca. 5. Jh.)
Vgl. Altfranzösisch (ca. 11. Jh.)
Nominativ
mūrus
*múros
murs
Akkusativ
mūrum
*múru
mur
Ablativ
mūrō
*múro
Dativ
Genitiv
mūrī
*múri
Dieser starke Kasussynkretismus (Zusammenfall der Endungen) bewirkte eine zunehmende Umschreibung der syntaktischen Verhältnisse mittels Präpositionen. Vulgärlatein entwickelte sich damit von einer synthetischen Sprache zu einer analytischen.
Der Genitiv starb gemäß Wilhelm Meyer-Lübke im dritten nachchristlichen Jahrhundert aus und wurde durch die dem Nomen vorangestellte Präposition de ‚von‘ ersetzt. Der Dativ hielt sich länger, wurde aber ebenfalls durch eine Präpositionalkonstruktion ersetzt, nämlich mit ad ‚zu‘. Von dieser Entwicklung wurden die Personalpronomen weniger betroffen, und sie behielten oft ihre eigenständigen Formen bei. So wurde der Ablativ mēcum ‚mit mir‘ im Spanischen zu conmigo. Das Rumänische hat komplexe Flexionen für den Genitiv/Dativ -e(i) -(l)ui -(l)or -uri.
In den west- und inselromanischen Sprachen (Ibero-, Gallo- und Rätoromanisch sowie Sardisch) wurde dieses System in späterer Zeit dahingehend neu funktionsfähig gemacht, indem das im Vulgärlatein lautgesetzlich erhaltene -s im maskulinen Nominativ Singular schwand und das im Akkusativ Plural lautgesetzlich erhaltene -s auf den Nominativ Plural übertragen wurde. Damit erhielten die west- und inselromanischen Sprachen ein System „Singular ohne -s“ versus „Plural auf -s“; vgl. neufranzösisch Singular generell la rose, le mur versus Plural generell les roses, les murs. In den italoromanischen Sprachen hingegen verschwand das -s des maskulinen Nominativ Singulars ebenfalls, im Plural wurden hingegen die Formen des Nominativs verallgemeinert, vgl. neuitalienisch Singular generell la rosa, il muro vs. Plural generell le rose, i muri. Im Balkanromanischen schließlich haben sich sowohl Kasusendungen im Genitiv/Dativ als auch die Formen des lateinischen Nominativ Plural erhalten.
Nach abweichender Erklärung setzt das Italoromanische das auslautende -s des Akkusativs Plural in einer Zwischenstufe ebenfalls voraus. Hingegen wird ein auslautendes -s des Lateinischen im Italienischen zu -i vokalisiert. Der Weg wäre somit muros > *muroi > muri.
Verlust des Neutrums
Typische italienische Endungen
Substantive
Adjektive
Sg.
Pl.
Sg.
Pl.
m
uomo
uomini
buono
buoni
f
donna
donne
buona
buone
n
uovo
uova
buono
buone
Da das Neutrum durch lautliche Entwicklungen meist nur noch im Nominativ und Akkusativ Plural vom Maskulinum zu unterscheiden war (vgl. n. nova, m. novi ‚die Neuen‘), wurde es von den Maskulina absorbiert.
Im Italienischen haben sich Reste des lateinischen Neutrums erhalten. Formen wie l’uovo fresco ‚das frische Ei‘ / le uova fresche ‚die frischen Eier‘ deutet die eine Anschauung als maskulines uovo mit einem unregelmäßigen Plural, die andere Sicht beschreibt uovo als ein regelmäßiges Substantiv im Neutrum (lat. ovum, Plural ova). Ausgeprägter ist dieses Phänomen in einigen süditalienischen Dialekten, vgl. südkalabresisch locu ‚Ort‘ – locura.
Auch das Spanische kennt noch Reste eines Neutrums. Deadjektivische Abstrakta flektieren zwar wie Maskulina, verlangen jedoch an Stelle des maskulinen Artikels el den neutralen Artikel lo:lo bueno ‚das Gute‘.
Außer im Rumänischen gibt es in anderen großen romanischen Sprachen keine Substantive mit neutralem Genus mehr, aber alle haben noch Pronomina im Neutrum. Französisch: celui-ci, celle-ci, ceci ‚dieser‘, ‚diese‘, ‚dieses‘; Spanisch: éste ‚dieser‘, ésta ‚diese‘, esto ‚dieses‘; Italienisch: ciò, 'dies’ (aus ecce hoc); Katalanisch: el ‚ihn‘, la ‚sie‘, ho ‚es‘; Portugiesisch: todo ‚aller‘ m., toda ‚alle‘ f., tudo ‚alles‘ n.
Klitische Objektpronomen (Tobler-Mussafia-Gesetz)
Das klassische Latein kannte keine klitischen oder unbetonten Objektpronomina. Dort waren alle Pronomina, vergleichbar mit denen in der standardhochdeutschen Sprache, eigenständige Wörter, die frei im Satz an Stelle von Substantiven auftreten konnten, deshalb waren es in der Regel auch betonte Pronomen. Mit dem Herausbilden des Vulgärlateins entwickelte sich dann die Unterscheidung zwischen betonten und unbetonten Formen, wie sie in allen romanischen Sprachen zu finden ist. Auch kam es zu einer fundamentalen Umstrukturierung des Pronominalsystems, welche in der Folge Ausdruck des grundlegenden Umbaus im syntaktischen System war.
Die Pronomina bildeten zwei Formen aus, so die
betonten, unverbundenen, eigenständigen Pronomina, die allein oder mit einer Präposition zusammen auftreten und sich durch eine relativ freie Stellung im Satz auszeichnen, und die
unbetonten, verbundenen Pronomina, die immer direkt beim Verb stehen (proklitisch vor oder enklitisch nach dem Verb).
Diese Gesetzmäßigkeit wurde bei der Entstehung der romanischen Sprachen von den beiden Romanisten Adolf Tobler (1875) und Adolf Mussafia (1886) erstmals beschrieben und später als Tobler-Mussafia-Gesetz benannt.
Im Vulgärlatein pàter me vídet der „Vater sieht mich“ steht das Pronomen me enklitisch zu pàter und proklitisch zu vídet. Im Satz nùnc me vídet „nun sieht sie/er mich“ steht das Pronomen me enklitisch zu nùnc und proklitisch zu vídet. Unbetonte Pronomen dürfen nicht am Satzanfang stehen, sondern müssen ein betontes Wort vor sich haben.[12]
Adverbien
Das klassische Latein kannte verschiedene Suffixe, um Adverbien aus Adjektiven zu bilden: carus „lieb“, „teuer“ wurde zu care;acer „scharf“ zu acriter;creber „oft“ zu crebro. Alle diese Formen gingen im Vulgärlatein verloren und wurden durch einen Ablativ und das Wort mente, Ablativ von mens, ersetzt, was „im … Sinne“, „auf … Art/Weise“ bedeutete. So wurde velox („schnell“) statt zu velociter zu veloci mente > veloce mente („im schnellen Sinne“, „auf schnelle Art/Weise“, vgl. deutsch glücklicherweise, eigentlich „in glücklicher Weise“).
Diese Veränderung fand schon im ersten Jahrhundert vor Christus statt und findet sich beispielsweise bei Catullus:
Nunc iam illa non vult; tu, quoque, impotens, noli,
Nec quae fugit sectare, nec miser vive,
Sed obstinata mente perfer, obdura.
(„Nun will sie nicht mehr, du solltest auch nicht wollen, noch was flieht verfolgen, noch vergrämt leben, sondern (er)trage es festen Verstandes standhaft.“)
Einige Tochtersprachen, wie Altfranzösisch, entwickelten durch die Lautverschiebungen neue grammatikalische Unterscheidungen. Beispielsweise gab es auf Latein ámo, amámus („ich liebe, wir lieben“); weil ein betontes A auf Altfranzösisch zu einem Diphthong wurde, konjugierte man j’aime („ich liebe“), aber nous amons („wir lieben“) (neufranzösisch: nous aimons). Viele dieser „starken“ Verben haben heute vereinheitlichte Formen, doch manche behielten die Diphthongierung: je viens („ich komme“), aber nous venons („wir kommen“).
Das Futur wurde in den romanischen Sprachen ursprünglich über Hilfsverben ausgedrückt. Das war deswegen der Fall, weil /b/ zwischen Vokalen zu /v/ wurde, das Futur „amabit“ war so vom Perfekt „amavit“ nicht mehr unterscheidbar. Ein neues Futur wurde entwickelt, ursprünglich mit dem Hilfsverb habere:*amare habeo, wörtlich „ich habe zu lieben“. Wie aus folgenden Beispielen ersichtlich, wurde aus habeo ein Futursuffix:
Das Futur in der sardischen Sprache wird weiterhin mit app’a (appo a, von lat. habeo) + Infinitiv gebildet. Im Italienischen ist die zusammengesetzte Form in der altsizilianischen Dichtung (13. Jahrhundert) noch an der Wortbildung erkennbar.
Das Konditional hat einen ähnlichen Ursprung wie das Futur. Es geht auf die Bildung vom Typ *amare habui zurück, setzt also habere ins Perfekt (vgl. ital. amere[bb]i oder amerebbe).
Konjugation
Ein Vergleich klassischen und Vulgärlateins sowie von fünf romanischen Sprachen in der Konjugation des regelmäßigen Verbs amare und des Hilfsverbsesse:
hubiera/hubiese sido hubieras/hubieses sido hubiera/hubiese sido hubiéramos/hubiésemos sido hubierais/hubieseis sido hubieran/hubiesen sido
tivesse sido tivesses sido tivesse sido tivéssemos sido tivésseis sido tivessem sido
fossi stato fossi stato fosse stato fossimo stati foste stati fossero stati
eusse été eusses été eût été eussions été eussiez été eussent été
hagués estat haguessis estat hagués estat haguéssim estat haguéssiu estat haguessin estat
Imperativ
– es esto – este/estote sunto
– sé sea seamos sed sean
– sê seja sejamos sede sejam
– sii sia siamo siate siano
– sois – soyons soyez –
– sigues (sigui) siguem sigueu (siguin)
Literatur
Frederick Bodmer: Die Sprachen der Welt. Geschichte – Grammatik – Wortschatz in vergleichender Darstellung. Parkland-Verlag, Köln 1997, ISBN 3-88059-880-0.
Eugenio Coseriu: Das sogenannte „Vulgärlatein“ und die ersten Differenzierungen in der Romania. Eine kurze Einführung in die romanische Sprachwissenschaft. In: Reinhold Kontzi (Hrsg.): Zur Entstehung der romanischen Sprachen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1978, ISBN 3-534-04073-2, S. 257–291.
Reinhard Kiesler: Einführung in die Problematik des Vulgärlateins. 2. Auflage. (= Romanistische Arbeitshefte. 48). Niemeyer, Tübingen 2018, ISBN 3-484-54048-6.
Dag Norberg: Manuel pratique de latin médiéval. (= Connaissance des langues. 4). Picard, Paris 1968. (französisch)
Gerhard Rohlfs: Vom Vulgärlatein zum Altfranzösischen. Einführung in das Studium der altfranzösischen Sprache. (= Sammlung kurzer Lehrbücher der romanischen Sprachen und Literaturen. 15). 3., verbesserte Auflage. Niemeyer, Tübingen 1968.
Helmut Schmeck (Hrsg.): Karl Vossler: Einführung ins Vulgärlatein. Hueber, München 1953, DNB455324042.
Veikko Väänänen: Le Latin vulgaire des inscriptions pompéiennes. Nouvelle éd. rev. et augm. (= Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst. Jg. 1958, Nr. 3). Akademie, Berlin 1959.
Veikko Väänänen: Introduction au latin vulgaire. 3. Auflage. Klincksieck, Paris 1981. (französisch)
Das sogenannte „Vulgärlatein“ und die ersten Differenzierungen in der Romania. (PDF; 1,7 MB) In: Eugenio Coseriu: El llamado «latin vulgar» y las primeras diferencaciones romances. Breve introducción a la lingüística románica. Unveröffentlichtes Manuskript, Aus dem Spanischen von Wulf Oesterreicher. Montevideo 1954, S. 2–43, 135–150, 172–202.
↑Eugenio Coseriu: El llamado latín vulgar y las primeras diferenciaciones romances: breve introducción a la lingüística románica. Universidad de la República, Montevideo 1954, OCLC559690750.
↑Harald Haarmann: Weltgeschichte der Sprachen. Von der Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart. C.H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60802-5, S. 211–240.
↑Reinhard Kiesler: Einführung in die Problematik des Vulgärlateins. 2006, S. 39.
↑Wolf Dietrich, Horst Geckeler: Einführung in die spanische Sprachwissenschaft: Ein Lehr- und Arbeitsbuch. 4. Auflage. Schmidt, Berlin 2007, ISBN 978-3-503-06188-4, S. 127 f.
↑nicht im Sinne von hier zu übersetzen, sondern als Demonstrativpronomen in der Bedeutung dieser, diese, dieses
↑Paul M. Lloyd: On the Definition of “Vulgar Latin”: The Eternal Return.Neuphilologische Mitteilungen, Band 80, Nr. 2, 1979, S. 110–22.
↑Paul M. Lloyd: On the Definition of “Vulgar Latin”: The Eternal Return.Neuphilologische Mitteilungen, Band 80, Nr. 2, 1979, S. 122.
↑Reinhard Kiesler: Einführung in die Problematik des Vulgärlateins. 2018, S. 112.
↑Wolfgang Raible: Nominale Spezifikatoren (“Artikel”) in der Tradition lateinischer Juristen oder Vom Nutzen einer ganzheitlichen Textbetrachtung für die Sprachgeschichte. Spezifikatoren des Nomens in der Tradition lateinischer Juristen, Universität Freiburg, S. 1–19 romanistik.uni-freiburg.de (PDF; 155 kB); Ursprünglich in: Romanistisches Jahrbuch 36, 1985, S. 44–67.
↑Reinhard Kiesler: Einführung in die Problematik des Vulgärlateins. 2006, S. 54.
↑Reinhard Kiesler: Einführung in die Problematik des Vulgärlateins. 2006, S. 55.
↑Wolf Dietrich: Der periphrastische Verbalaspekt in den romanischen Sprachen: Untersuchungen zum heutigen romanischen Verbalsystem und zum Problem der Herkunft des periphrastischen Verbalaspekts. (= Zeitschrift für romanische Philologie. Band 140). Max Niemeyer Verlag, Berlin 1973, ISBN 3-484-52045-0.