Share to: share facebook share twitter share wa share telegram print page

 

Lob der Vergänglichkeit

Thomas Mann in Weimar, 1949

Lob der Vergänglichkeit ist der Titel eines kurzen Radio-Essays von Thomas Mann, den er am 31. Januar und 1. Februar 1952 für eine Sendung der CBS-Hörfunkserie This I Believe schrieb. Der deutsche Text wurde erstmals in der evangelischen Kulturzeitschrift Eckart veröffentlicht und erschien dann als „Ein Weihnachts- und Neujahrsgruß für unsere Freunde 1952/1953“ im S. Fischer Verlag.

In dem kurzen Text streift Mann philosophische, religiöse und naturwissenschaftliche Fragen und greift auf Teile seines Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull zurück. Im kurz zuvor abgeschlossenen fünften Kapitel des dritten Buches klärt der Paläontologe Kuckuck den Protagonisten über Fragen der Astronomie, Erdgeschichte und Evolution auf.

Wie bereits der Titel andeutet, preist Mann die Vergänglichkeit und wiederholt den Glauben des redseligen Professors, das Leben zu achten nicht obwohl, sondern weil es endlich ist. Trotz der Lage als peripheres „Winkelsternchen“ in der Milchstraße habe die Erde als Ort der „Urzeugung“ des Menschen im Getümmel des Universums eine zentrale Bedeutung.

Inhalt

Zu Beginn wendet Thomas Mann sich gegen die Auffassung, Vergänglichkeit als etwas Trauriges zu betrachten. Sie sei vielmehr „die Seele des Seins“ und verleihe „allem Leben Wert, Würde und Interesse“, schaffe sie doch Zeit als höchster, mit dem Schöpferischen verwandter Gabe. Er streift die Evolution und das Alter des organischen Lebens, das sich über unzählige Mutationen bis zum Menschen als seinem „gewecktesten Kinde“ entfaltet habe und einen Zeitraum von etwa 550 Millionen Jahren umfasse. Fraglich sei, ob dem Leben ein ähnlicher langer Zeitraum verbleibe, denn es sei zwar widerstandsfähig, aber an gewisse Bedingungen geknüpft. Es habe begonnen und werde enden, wie denn die Bewohnbarkeit eines Himmelskörpers im Laufe der Äonen lediglich ein Intermezzo sei.[1]

Er grenzt drei „Urzeugungen“ voneinander ab: Die Entstehung des Universums aus dem Nichts, die des Lebens und die des Menschen, dessen stoffliche Basis sich nicht vom übrigen Seienden unterscheide. Das den Menschen charakterisierende Wissen um die Vergänglichkeit, und damit das Geschenk der Zeit, sei indes variabel nutzbar, so „dass wenig davon viel sein kann.“ So lässt sich die Zeit mit der Dichte bestimmter Himmelskörper vergleichen, und wie ein winziges Stück davon zwanzig Zentner wiegen kann, hat die „Zeit schöpferischer Menschen“ für Thomas Mann ebenfalls eine „andere Dichtigkeit“ als die „leicht verrinnende“ der Mehrheit.[2]

Der Mensch habe die Zeit zu heiligen und mit ihrer Hilfe, rastlos strebend und sich selbst vervollkommnend, dem „Vergänglichen das Unvergängliche abzuringen.“[3] Zwar sei für die „große Wissenschaft“ der Astronomie die Erde ein „Winkelsternchen“ am Rande der Milchstraße, doch erschöpfe sich in dieser Richtigkeit nicht die Wahrheit. Bei dem „Es werde“, das den Kosmos hervorbrachte, wie bei der „Zeugung des Lebens“, sei es auf den Menschen als Versuch abgesehen worden, dessen Scheitern die Schöpfung selbst widerlegen würde. „Möge es so sein oder nicht so sein – es wäre gut, wenn der Mensch sich benähme, als wäre es so.“[4]

Entstehung

Die Hörfunkserie This I Believe, in der prominente wie unbekannte Menschen den Hörern in wenigen Minuten ihre Gedanken vorstellen konnten, wurde von Edward R. Murrow ins Leben gerufen, der später eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit Joseph McCarthy spielte.

Thomas Mann hatte kurz zuvor über einen philosophischen Text nachgedacht. In einer Tagebuchnotiz vom 17. Dezember 1951 erwähnte er sowohl den Abschluss des Kuckucks-Kapitels, dessen naturphilosophische Gedanken er in den Vortrag übernahm, als auch ein „Essay über das Sein“.[5]

In weiteren Notizen vom 23. Dezember hielt er einige zentrale Gedanken fest und erwähnte, dass er das Buch „The Universe and Dr. Einstein“ des amerikanischen Journalisten Lincoln Barnett gelesen habe. Alles sei miteinander verbunden, habe einen Anfang aber auch ein Ende und werde „wie vorher im raum- und zeitlosen Nichts sein“. Das Leben selbst sei eine Episode, wie denn „vielleicht alles Sein ein Zwischenfall zwischen Nichts und Nichts“ sei. Er fragte sich, „wie und warum im Nichts die erste Schwingung des Seins“ auftrat und durch ein geheimnisvoll „Hinzukommendes“ eine „Wendung zum Leben“ ermöglichte.[6]

Mit der Einladung des Senders konnte er bereits im folgenden Monat seine Überlegungen umsetzen. Zufrieden sprach er von einer „auszeichnende(n) Einladung“, die „wohl nicht von der Hand gewiesen werden“ sollte und erwähnte auch die 600 Wörter, die der Text umfassen dürfe.[7]

Wie Erika Mann in einem Gespräch mit Roswitha Schmalenbach sagte, habe sie den ursprünglichen Text so kürzen müssen, dass er in den Rahmen der Sendung von lediglich „3 Minuten und 27 Sekunden“ passte und ihn zudem mit ihrem Vater auf Englisch einstudiert.[8] Zur Vorbereitung der Vorträge las er ihr den eigenen englischen Text vor, ließ sich unterbrechen, wenn er Fehler machte und baute ihre Hinweise (zum Klang und zur Betonung) mit phonetischen Zeichen in sein Manuskript ein. In diesem Zusammenhang entstanden zahlreiche Tonaufnahmen, die Erika bis auf „This I Believe“ nicht aufhob.[9]

Hintergrund

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, 1954

Für die wesentlichen Teile des Vortrags griff der Autor auf das tiefsinnige Kuckuck-Gespräch im dritten Buch des fragmentarischen Romans zurück, das nur wenige Monate zuvor entstanden war und für den Vortrag stellenweise ins „Versöhnlichere“ umformuliert wurde.[10] Felix, nun als Marquis de Venosta, lässt sich während der Zugfahrt von Paris nach Lissabon von dem „Mann mit den Sternenaugen“ über den „Riesenschauplatz“ des kosmischen Geschehens belehren, der tanzenden Meteore und Monde, Kometen, Nebel und Sterne, die durch Gravitation miteinander verbunden sind.

Bereits in seinem Roman Der Zauberberg hatte Hans Castorp über die Bedingungen und Anfänge des Lebens spekuliert und auf Ähnlichkeiten zwischen Mikro- und Makrokosmos verwiesen, eine Thematik, die Thomas Mann mehrfach aufgriff und die ihn auch im Alter nicht losließ.[11] Was im Doktor Faustus der empörte Erzähler Serenus Zeitblom als die „Horrendheiten der Physik“ bezeichnete, erscheint in seinem Schelmenroman im helleren Charakter des lichterfüllten Fests.[12]

In dem kurzen Text finden sich keine expliziten Aussagen über das Jenseits. Thomas Sprecher sieht einen immanent religiösen Bezug, indem man das Diesseits nicht loben könne, ohne stillschweigend etwas über den anderen Bereich auszusagen und bewertet diese Haltung als agnostizistische „Daseinsfrömmigkeit“, welche die Existenz der „anderen Wirklichkeit“ weder behauptet noch ausschließt.[13] So nehme Thomas Mann die „Weltfrömmigkeit“ wieder auf, die sich als Grundhaltung bereits zu Beginn des Romans findet, in jenem Abschnitt, in dem Felix bei einer „Grübelei“ seinen Glauben bekennt, „die Dinge und Menschen für voll und wichtig zu nehmen“ und in allem „etwas Großes, Herrliches und Wichtiges“ zu sehen.[14]

Angesichts der kurzen Lebensspanne des Menschen bewertet Thomas Sprecher die Aussagen über das Streben zur Selbstvervollkommnung als ironisch und wirft die Frage auf, warum der Autor die Vergänglichkeit lobt, die doch auch seine Werke erfasse. Allerdings könne die Endlichkeit den Künstler stimulieren, schöpferisch zu sein und die knappe Lebenszeit so gut wie möglich auszufüllen, zumal Vergänglichkeit nicht mit Vergeblichkeit zu verwechseln sei. Die Endlichkeit der Kunstwerke sei zudem relativ, indem einige Werke, die Jahrzehnte oder gar Jahrtausende bestehen, ihre Existenz bereits gerechtfertigt hätten.[15]

Literatur

  • Hermann Kurzke: Das Winkelsternchen In: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Beck, München 2006, ISBN 3-406-55166-1, S. 359–360
  • Thomas Sprecher: Thomas Manns Lob der Vergänglichkeit. In: Thomas Sprecher (Hrsg.): Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002. Thomas-Mann-Studien. Klostermann, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-465-03294-2, S. 171–182

Einzelnachweise

  1. Thomas Mann: Lob der Vergänglichkeit. In: Hermann Kurzke, Stephan Stachorski (Hrsg.): Essays, Band 6. Meine Zeit. 1945–1955, Fischer, Frankfurt 1994, S. 219
  2. Thomas Mann: Lob der Vergänglichkeit. In: Hermann Kurzke, Stephan Stachorski (Hrsg.): Essays, Band 6. Meine Zeit. 1945–1955, Fischer, Frankfurt 1994, S. 220
  3. Thomas Mann: Lob der Vergänglichkeit. In: Hermann Kurzke, Stephan Stachorski (Hrsg.): Essays, Band 6. Meine Zeit. 1945–1955, Fischer, Frankfurt 1994, S. 221
  4. Thomas Mann: Lob der Vergänglichkeit. In: Hermann Kurzke, Stephan Stachorski (Hrsg.): Essays, Band 6. Meine Zeit. 1945–1955, Fischer, Frankfurt 1994, S. 221
  5. Thomas Mann: Tagebücher 1951 – 1952, 17. Dezember 1951. Fischer, Frankfurt 1993, S. 150
  6. Thomas Mann: Tagebücher 1951 – 1952, 23. Dezember 1951. Fischer, Frankfurt 1993, S. 153
  7. Thomas Mann: Tagebücher 1951 – 1952, 23. Dezember 1951. Fischer, Frankfurt 1993, S. 152
  8. Zit. nach: Thomas Sprecher: Thomas Manns Lob der Vergänglichkeit. In: Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002. Thomas-Mann-Studien. Klostermann, Frankfurt am Main 2004, S. 178
  9. So Erika Mann: Mein Vater, der Zauberer. Hrsg. Irmela von der Lühe, Uwe Naumann. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1996 S. 44–45
  10. Anmerkungen zu Thomas Manns Lob der Vergänglichkeit. In: Hermann Kurzke, Stephan Stachorski (Hrsg.): Essays, Band 6. Meine Zeit. 1945–1955, Fischer, Frankfurt 1994, S. 521
  11. Hermann Kurzke: Pein und Glanz. Das Winkelsternchen In: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Beck, München 2006, S. 556
  12. Hermann Kurzke: Pein und Glanz. Das Winkelsternchen In: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Beck, München 2006, S. 557
  13. Thomas Sprecher: Thomas Manns Lob der Vergänglichkeit. In: Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002. Thomas-Mann-Studien. Klostermann, Frankfurt am Main 2004, S. 180
  14. Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band VII, Fischer, Frankfurt 1974, S. 274–275
  15. Thomas Sprecher: Thomas Manns Lob der Vergänglichkeit. In: Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002. Thomas-Mann-Studien. Klostermann, Frankfurt am Main 2004, S. 179
Kembali kehalaman sebelumnya


Index: pl ar de en es fr it arz nl ja pt ceb sv uk vi war zh ru af ast az bg zh-min-nan bn be ca cs cy da et el eo eu fa gl ko hi hr id he ka la lv lt hu mk ms min no nn ce uz kk ro simple sk sl sr sh fi ta tt th tg azb tr ur zh-yue hy my ace als am an hyw ban bjn map-bms ba be-tarask bcl bpy bar bs br cv nv eml hif fo fy ga gd gu hak ha hsb io ig ilo ia ie os is jv kn ht ku ckb ky mrj lb lij li lmo mai mg ml zh-classical mr xmf mzn cdo mn nap new ne frr oc mhr or as pa pnb ps pms nds crh qu sa sah sco sq scn si sd szl su sw tl shn te bug vec vo wa wuu yi yo diq bat-smg zu lad kbd ang smn ab roa-rup frp arc gn av ay bh bi bo bxr cbk-zam co za dag ary se pdc dv dsb myv ext fur gv gag inh ki glk gan guw xal haw rw kbp pam csb kw km kv koi kg gom ks gcr lo lbe ltg lez nia ln jbo lg mt mi tw mwl mdf mnw nqo fj nah na nds-nl nrm nov om pi pag pap pfl pcd krc kaa ksh rm rue sm sat sc trv stq nso sn cu so srn kab roa-tara tet tpi to chr tum tk tyv udm ug vep fiu-vro vls wo xh zea ty ak bm ch ny ee ff got iu ik kl mad cr pih ami pwn pnt dz rmy rn sg st tn ss ti din chy ts kcg ve 
Prefix: a b c d e f g h i j k l m n o p q r s t u v w x y z 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9