Georg Troller ist der zweite Sohn von Karl Troller, einem jüdischenPelzhändler aus Brünn, der in der Neutorgasse im 1. Wiener Gemeindebezirk ein Geschäft betrieb, und von Vilma Troller, geborene Pick. Die Familie lebte dort am Rudolfsplatz und übersiedelte später nach Wien-Döbling.[1][2] In Wien besuchte er das Gymnasium. Im 1. Bezirk lernte Troller zunächst den Beruf des Buchbinders.[3] Als es 1938 zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich kam, floh er im Alter von 16 Jahren in die Tschechoslowakei und von dort nach Frankreich, wo er bei Kriegsausbruch interniert wurde. Beim Einmarsch der Deutschen gelang ihm mit zwei anderen Inhaftierten die Flucht aus dem Lager. Sie wollten per Anhalter über die Front und sich den Franzosen anschließen. Sie hatten dabei großes Glück, denn es hielten deutsche Soldaten auf Motorrädern und nahmen sie mit, ohne ihre Ausweise zu kontrollieren. Aus Angst vor Entdeckung vernichtete Troller seine Papiere in einem unbeobachteten Augenblick, was er später sehr bedauerte.[4] 1941 erhielt er in Marseille ein Visum für die USA. Die Eltern konnten über Portugal fliehen. Von 1941 bis 1943 war Troller als Buchbinder tätig. 1943 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und war bis 1946 US-Soldat. Er war am 29. April 1945 an der Befreiung und Dokumentation des KZ Dachau sowie am 1. Mai 1945 an der Einnahme Münchens beteiligt. Aufgrund seiner Deutschkenntnisse wurde er von der US-Armee bei der Vernehmung von Kriegsgefangenen eingesetzt. Zudem wurde er Reporter des Armeesenders Radio München.[5]
Nach Kriegsende versuchte Troller in Österreich heimisch zu werden, fühlte sich dort jedoch fremd. Beim Wiener Sender Rot-Weiß-Rot initiierte er die Sendereihe XY weiß alles. Danach kehrte er in die USA zurück und studierte von 1946 bis 1949 Anglistik mit Abschluss als B. A. an der University of California und Theaterwissenschaft an der Columbia University in New York, wo er 1949 einen Abschluss als M. A. erhielt.
Ein Fulbright-Stipendium für ein Studium an der Sorbonne in Paris führte Troller 1949 nach Europa. Er war 1951 für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Sorbonne eingeschrieben, doch zum Studium kam es nicht mehr, da er ein Angebot des RIAS Berlin (Rundfunk im amerikanischen Sektor) erhielt, für den er fortan als Hörfunkreporter arbeitete. Ab 1952 war er für Medien aus den USA, Kanada, Österreich und der Bundesrepublik Deutschland Paris-Korrespondent (in Rundfunk, Fernsehen und Presse). In Deutschland wurde er vor allem als WDR-Fernsehreporter in seiner Sendung Pariser Journal (1962–1971) bekannt. Von 1971 an war Troller Sonderkorrespondent des ZDF mit Sitz in Paris. 1972 begann er die ZDF-Sendereihe Personenbeschreibung, in der er im Laufe von 22 Jahren prominente Künstler und unbekannte Zeitgenossen sowie ungewöhnliche Lebensschicksale vorstellte.
Seit 1949 lebt Troller in Paris. Er ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin.
2019 erschien in der Literaturzeitschrift Sinn und Form die Druckfassung eines Gesprächs im Begleitprogramm zur Ausstellung »Kinder im Exil«, das am 5. Juli 2016 in der Akademie der Künste geführt wurde. Troller sagte hier: »Ich werde immer wieder gefragt, ob Frankreich oder Amerika meine Heimat ist: Eine Heimat kann man sich nicht wieder aufbauen, das funktioniert nicht.«[6]
Im Mai 2023 verlieh der PEN Berlin dem 101-jährigen Troller die Ehrenmitgliedschaft.[8]
Die Kunst des Interviews
In den 1940er Jahren schrieb Troller kurze Geschichten und Glossen in Paris (einige dieser Texte wurden erst zu Trollers 100. Geburtstag vom Filmwissenschaftler Wolfgang Jacobsen in dem Buch Der Unnötige veröffentlicht),[9] über die der Journalist Helmut Böttiger befand, bereits in ihnen bemerke man „die unverschnörkelte Direktheit, mit der Troller später in seinen Personenbeschreibungen im Fernsehen berühmt wurde, und den differenzierten, genauen Blick sowie die dialogische Kunst seines Pariser Journals“.[10] Nach eigenen Angaben führte Troller zwischen 1200 und 1500 Interviews.[11]
Im Jahr 1962 begann er im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks mit der Produktion des von der ARD gesendeten Pariser Journals. 1971 wurde er Sonderkorrespondent des ZDF in Paris. Dort begann er mit der siebzig Folgen umfassenden TV-Sendereihe Personenbeschreibung, die für das journalistische Genre des Interviews stilbildend wirkte. Anfänglich war seine betont subjektive Befragungsweise unter Fernsehredakteuren verpönt und nur geduldet, denn Dokumentationen hatten stets das Gebot der Neutralität zu erfüllen.[12] Allmählich wurde seine einfühlsame wie kritische Methode der Personenbefragung jedoch zum Vorbild für viele weitere Journalisten. Ein Beispiel ist die Gesprächsreihe Gero von Boehm begegnet …, die sich in jeder Folge nur einer Persönlichkeit widmete.
Troller war immer daran interessiert, die verborgenen persönlichen Geheimnisse der Interviewten aufzudecken. Die von Journalisten bediente Sensationslust bezeichnete er einmal selbstironisch als „Menschenfresserei, die vom warmen Blut ihrer Opfer lebt“.[13] Zu seinen Vorbildern zählte er Karl Kraus. Trollers primäre Triebfeder jedoch war es nach eigener Aussage immer, seine natürliche, durch Flucht und Verfolgung gesteigerte Menschenscheu zu überwinden. Indem er ausgewählten Menschen jene zeitlosen Fragen stelle, die er an sich selber habe, habe er damit auch seinen eigenen Erfahrungshorizont als Mensch und Filmemacher erweitert.[14]
Aus erster, geschiedener Ehe mit der britischen Journalistin Davina Hughes stammt seine älteste Tochter, Fenn. Ab 1976 war er mit der gebürtigen Hamburgerin Kirsten Lerche verheiratet und hatte mit ihr ebenfalls eine Tochter, Tonka. Seine zweite Frau starb 2018[18] und wurde auf dem Cimetière de Montmartre beigesetzt.[19]
An Originalschauplätzen drehte Troller eine nachdenkliche Selbstbeschreibung (in erweiterter Form 2009 bei Artemis & Winkler erschienen), die zu seinem 80. und 90. Geburtstag im Bayerischen Fernsehen gezeigt wurde.
Im Jahr 2022 nahm er die österreichische Staatsbürgerschaft wieder an.[20]
„Österreicher jüdischer Herkunft, den Nazis nur knapp entkommen, heute als Amerikaner in Paris lebend, fühlt sich Troller dem deutschen Sprachraum zugehörig“, heißt es auf dem Klappentext eines Buches über ihn.[21]
Werke
Regie
1962–1971: Pariser Journal (50 Folgen)
1967: Seemann im Sattel (2-teilige Biografie Jack Londons)
1968: Wolf ohne Halsband. Bilder aus dem Leben von Paul Gauguin
1968: Tierra y Libertad! Die Mexikanische Revolution
1981: Wohin und zurück – An uns glaubt Gott nicht mehr. Trilogie über die eigene Emigration, Regie: Axel Corti, Drehbuch zusammen mit Axel Corti
1986: Wohin und zurück – Santa Fe. Regie: Axel Corti, Drehbuch zusammen mit Axel Corti. Buchausgabe: Santa Fe – Ein Drehbuch.Fernsehspiel-Bibliothek, Residenz-Verlag, Salzburg 1985
1986: Wohin und zurück – Welcome in Vienna. Regie: Axel Corti, Drehbuch zusammen mit Axel Corti
2009: Wohin und zurück – Die Axel-Corti-Trilogie. Buchausgabe der drei Drehbücher An uns glaubt Gott nicht mehr, Santa Fe und Welcome in Vienna. Mit einem Nachwort von Ruth Beckermann. Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft.
Selbstbeschreibung. Ergänzte Neuauflage, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2009, ISBN 978-3-538-07276-3, auch selbst verfilmt
Unterwegs auf vielen Straßen. Erlebtes und Erinnertes, Edition Memoria, Köln 2016, ISBN 978-3-930353-36-1
Meine ersten 100 Jahre. Neue Geschichten und Berichte, Edition Memoria, Köln 2021, ISBN 978-3-930353-41-5
Paris, Frankreich, Wien
Pariser Journal. Ein unkonventioneller Parisführer. Marion von Schröder, Hamburg 1966
Pariser Gespräche. Prominenteninterviews. Marion von Schröder, Hamburg 1967
Mein Paris. Bildband. Fischer, Frankfurt am Main 1970. Überarbeitete Ausgabe ebenda 1973
Pariser Geschichten. Schwann, Düsseldorf 1972
Frankreich: Schönheiten und Schätze. Umschau, Frankfurt 1984
mit Artur Kittlitz jr: Unbekanntes Paris. Jenseits von Montparnasse. Ein Spaziergang durch das letzte „Pariser Dorf“. Düssel-Art, Düsseldorf 2000, ISBN 3-9806851-1-X
Dichter und Bohemiens. Literarische Streifzüge durch Paris. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2003, ISBN 3-538-07149-7 - Inhaltsangabe von 3sat
Das fidele Grab an der Donau. Mein Wien 1918–1938. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2004, ISBN 3-538-07188-8. Auch als von Troller gesprochene Audio-CD: Delta Music, Frechen 2006, ISBN 3-86538-227-4
Personenbeschreibung: Tagebuch mit Menschen. Rasch & Röhring, Hamburg 1990
Ihr Unvergesslichen. 22 starke Begegnungen. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006, ISBN 3-538-07216-7
Lebensgeschichten. Die Stars, Die Heiligen, Die Poeten, Die Sünder, Die Autoren, Die Künstler. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-538-07247-3
Liebe, Lust und Abenteuer. 97 Begegnungen meines Lebens. Corso, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-7374-0754-0
Erzählung
Vogelzug zu anderen Planeten: Der kleine Prinz und sein Fuchs treffen Pinocchio, Max und Moritz, Lolita und weitere, Karl Rauch, Düsseldorf 2011, ISBN 978-3-7920-0153-0
1969: Sonderpreis der Landesregierung Nordrhein-Westfalen beim Adolf-Grimme-Preis 1969, für die Fernsehsendung Wolf ohne Halsband – Bilder aus dem Leben des Paul Gaugin
Walter Habel (Hrsg.): Wer ist wer? Das deutsche Who's who. 24. Ausgabe. Schmidt-Römhild, Lübeck 1985, ISBN 3-7950-2005-0, S. 1262.
Gero von Boehm: Georg Stefan Troller. 7. November 2004. Interview in: Begegnungen. Menschenbilder aus drei Jahrzehnten. Collection Rolf Heyne, München 2012, ISBN 978-3-89910-443-1, S. 415–425.
Christian Hißnauer: Personen beschreiben, Leben erzählen – Die Fernsehporträts von Georg Stefan Troller und Hans-Dieter Grabe. Springer VS, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-17316-6
Marion Neumann, Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Ein Gespräch mit Georg Stefan Troller über Heimat, Emigration und Verwandlung. In: Sinn und Form 1/2019, S. 136–139
Christoph Amend: «Alte Freunde sind erstaunt, dass ich immer noch da bin». Der Autor Georg Stefan Troller, 98, blickt zurück auf sein Jahrhundertleben, in: Zeit-Magazin, Beilage zu Die Zeit, Hamburg, Nr. 6, 30. Januar 2020, S. 14 bis 23.
Filmporträts
Georg Stefan Troller und sein Pariser Journal. Porträt, Deutschland, 29 Min., Buch und Regie: Heinrich Breloer, Produktion: WDR, Erstsendung: 31. August 1995 beim WDR, Inhaltsangabe von Breloer.
„Wir sind alle Menschenfresser“. Georg Stefan Troller und seine Personenbeschreibungen. Gesprächsdokumentation, Deutschland, 123 Min., Buch und Regie: Bodo Witzke, ZDF 1998
Georg Stefan Troller: Selbstbeschreibung. 2001, 80 Min. (Verfilmung seiner Autobiografie von 1988)
Auslegung der Wirklichkeit – Georg Stefan Troller, Österreich, 120 Min, Regie, Buch und Produktion: Ruth Rieser, 2021 (Weltpremiere beim DOK.fest München 2021)[25][26]
Michaela Wilhelm-Fischer: Georg Stefan Troller - Das geheime Drehbuch. Dokumentation, WDR, 2021, 60 Min. Hauptmotiv ist das Interview von Andreas Bönte mit dem fast Hundertjährigen.
↑Moritz Aisslinger und Harald Wieser: „So alt bin ich nun auch nicht“ (Interview mit Georg Stefan Troller). In: DIE ZEIT Nr. 35 vom 15. August 2024. S. 42–43.
↑Michaela Wilhelm-Fischer: Georg Stefan Troller - Das geheime Drehbuch. 2021 in der Reihe Zeuge der Zeit, ein Biografie-Film mit G.S.T., Minute 7
↑[1] Marion Neumann, Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Ein Gespräch mit Georg Stefan Troller über Heimat, Emigration und Verwandlung. In: Sinn und Form 1/2019, S. 136–139.
↑In: Georg Stefan Troller: Selbstbeschreibung, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2009, S. 343. „Denn am Ende – habe ich es einmal gesagt, muß ich auch dazu stehen – sind wir ja alle Menschenfresser. Wir ernähren uns vom warmen Blut unserer Beute, um uns selbst damit zu stärken, das ist der psychologische Vorgang, welches Schutzmäntelchen immer wir ihm umhängen mögen: das der Aufklärung, des Mitleidens oder auch der Sozialreportage.“
↑Susanne Marschall, Bodo Witzke: „Wir sind alle Menschenfresser.“ Georg Stefan Troller und die Liebe zum Dokumentarischen. BoD, Norderstedt 2012, ISBN 978-3-8423-6377-9 (Klappentext).