Ab urbe condita (Livius)Ab urbe condita (lateinisch für „seit Gründung der Stadt“) ist das Geschichtswerk des römischen Historikers Titus Livius. Der rhetorisch geschulte Autor lebte zur Zeit des Kaisers Augustus. Er erzählt in seinem Werk ausführlich die zu seiner Lebenszeit über 700-jährige Geschichte Roms. Die Darstellung reichte ursprünglich von Roms sagenhafter Gründung 753 v. Chr. bis zum Tod des Drusus im Jahr 9 v. Chr. Für die Gründungssage der Stadt, die anschließende sagenumwobene Königszeit sowie die frühe und mittlere Republik ist das Werk die wichtigste erhaltene Quelle. Die Darstellung der Geschichte der späteren Republik bis hin zu den zeitgenössischen Partien ist hingegen verschollen und nur durch kurze spätantike Auszüge und Inhaltszusammenfassungen greifbar. Der handschriftlich beglaubigte und auch durch andere Zeugnisse bestätigte vollständige Titel lautet ab urbe condita libri.[1] Weit verbreitet sind als deutsche Titel „Von der Gründung der Stadt (Rom)“ oder „Römische Geschichte“. Bei Quellenangaben wird das Werk in der Regel mit dem Kürzel des Autors, Liv., zitiert, da es keine anderen erhaltenen Schriften von ihm gibt. Umfang und AbfassungszeitDie Erzählung beginnt mit der Ankunft einer kleinen Gruppe von flüchtenden Trojanern in Italien. Das Ende des Werks kann nur aufgrund der Angaben der noch existierenden Inhaltsangabe (Periocha) des letzten Buches ermittelt werden. Sie erzählt den Tod des Drusus. Ursprünglich waren vielleicht 150 Bücher (bis zum Tod des Augustus) geplant, deren Fertigstellung das Ableben des Autors verhindert haben könnte.[2] Überliefert sind 142 Bücher, doch blieb nur knapp ein Viertel davon erhalten: die Bücher 1–10 (Zeit von 753 v. Chr. bis 293 v. Chr.) und 21–45 (218 v. Chr. bis 167 v. Chr.; ab Buch 41 lückenhaft). Der Rest ist durch Inhaltsangaben (periochae), Auszüge (epitomae) und Fragmente (insbesondere ein Palimpsest-Fragment aus dem 91. Buch über die Kriege des Quintus Sertorius) teilweise bekannt. In den erhaltenen Partien enthält ein einzelnes Buch etwa 55 Seiten Teubner-Text, so dass der Gesamtumfang des Werks gegen 7000 Seiten betrug. Für die Niederschrift seines Werks, das er abschnittsweise verfasste und veröffentlichte, benötigte Livius mehr als 40 Jahre. Wie viel Arbeit hinter dem Werk steckt und mit welcher Geschwindigkeit Livius gearbeitet hat, zeigt der Durchschnitt von drei bis vier Büchern im Jahr. Dieses hohe Arbeitstempo wird im Groben auch durch chronologische Indizien bestätigt. Da im 1. Buch die 29 v. Chr. erfolgte erste Schließung des Janustempels durch Augustus[3], aber nicht die zweite (25 v. Chr.) erwähnt ist, und ferner der Princeps als Augustus[4] bezeichnet wird, den Titel, den er erst 27 v. Chr. verliehen bekam, dürfte es zwischen 27 und 24 v. Chr. entstanden sein.[5] Im 9. Buch wird auf die Parther-Freundlichkeit eines zeitgenössischen Autors hingewiesen,[6] aber nicht die 20 v. Chr. erfolgte Rückgabe der Feldzeichen des Crassus durch die Parther erwähnt, so dass dieses Buch früher verfasst sein dürfte. Dass das 28. Buch nach 19 v. Chr. geschrieben wurde, ist daraus ersichtlich, dass eine darin gemachte Bemerkung den in diesem Jahr von Agrippa gegen die Kantabrer geführten Krieg voraussetzt.[7] Laut der Überschrift der periocha zum 121. Buch kamen die Bücher 121–142 erst nach dem Tod des Augustus (14 n. Chr.) heraus.[8] Da Livius in diesem Fall in seinen letzten drei Lebensjahren 22 Bücher hätte verfassen müssen, ist davon auszugehen, dass jedenfalls ein Teil von ihnen schon vor dem Publikationsdatum fertiggestellt war.[9] Gliederung und InhaltDie noch vorhandenen Partien des Geschichtswerkes gliedern sich in Gruppen zu je fünf Büchern (Pentade), die sich wiederum zu übergeordneten Fünfzehnergruppen (Pentekaidekaden) zusammenschließen.[11] Neue Abschnitte eröffnete Livius häufig mit eigenständigen Einleitungen, so etwa zu den Büchern 1, 6, 21, und 31.[12]
Stellvertretend aus den vielen, oftmals zitierten und berühmten Szenen, die Beschreibung von Ciceros letzten Tagen aus dem 120. Buch von Livius’ Ab urbe condita, dessen Wortlaut Seneca der Ältere[21] erhalten hat:[22]
ÜberlieferungszustandErhaltene TeileAls der Kodex seit dem 4. Jahrhundert allmählich die ältere Buchform der Schriftrolle verdrängte, ist das Werk des Livius ebenfalls in das neue Medium umgeschrieben worden. Dabei wurden meist je zehn Bücher zu einem Kodex vereint. Diese Einteilung in Dekaden ist erstmals in einem Brief des Papstes Gelasius I. Adversus Andromachum contra Lupercalia vom Jahr 496 bezeugt,[23] wo die (heute verlorene) zweite Dekade des Werks erwähnt wird, sodann in einem Palimpsest des 5. oder 6. Jahrhunderts, das die angeblich von Ambrosius von Mailand stammenden Akten des Märtyrers Sebastianus enthält. Erste DekadeDie Überlieferung der ersten Dekade basiert auf zwei Familien von Manuskripten, eine aus der Spätantike und die andere aus dem Mittelalter. Theodor Mommsen konnte nachweisen, dass beide auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen.[24] Von der einen Familie sind noch Fragmente der Bücher 3–6 auf Blättern des aus dem 4. Jahrhundert stammenden Veroneser Palimpsests (Sigle: V) erhalten. Es ist somit das älteste erhaltene livianische Manuskript[24] und befindet sich in der Biblioteca capitolare in Verona.[25] Die zweite Familie basiert auf einem vollständigen Exemplar der 142 Bücher, das sich im Besitz des Quintus Aurelius Symmachus befand und von Angehörigen des Symmachus-Kreises um 400 n. Chr. als emendierte (verbesserte) Neuedition herausgegeben wurde.[26] Eine Neuedition (auch Subskription oder Rezension genannt) wird erstellt, indem die zu jenem Zeitpunkt vorhandenen Manuskripte verglichen und emendiert werden. Es war dabei üblich, dass die ausführende Person ihren Namen, eine Subskription, an einer Stelle im Manuskript notierte. Das vom Symmachus-Kreis erstellte, emendierte Manuskript der ersten Dekade des livianischen Werks ist zwar im Original verloren, aber in Abschriften ab dem 9. Jahrhundert (insbesondere der Florentiner Handschrift aus dem 10. Jahrhundert; Sigle: D) erhalten und trägt die Namen von Tascius Victorianus,[27] Nicomachus Flavianus und Appius Nicomachus Dexter.[28] Es liefert einen deutlich besser wiederhergestellten Livius-Text als das Veroneser Palimpsest. Die ganze Familie mit allen Folge-Abschriften wird die Nicomachianische Rezension genannt, nach zwei der drei ursprünglich beteiligten Männer.[24] Robert Maxwell Ogilvie hat die wechselseitigen Beziehungen der erhaltenen und rekonstruierten Handschriften analysiert und in Form eines Stemma codicum dargestellt.[29] Ogilvies Arbeit gilt bis heute als grundlegend für die Livius-Forschung und zugleich eine mustergültige Anwendung textkritischer Methoden.
In der folgenden Abbildung ist das von Ogilvie ermittelte Stemma codicum für die Nicomachianische Rezension mit leichten Änderungen nachgezeichnet, wobei N der Konsens aller Nicomachianischen Abschriften ist, der sogenannte Archetyp. μ, λ und π stehen für Abschriften, die als Hyparchetypen (nicht erhaltene Zwischenstufen) bezeichnet werden. Die Hyparchetypen sind jeweils der Konsens aller von ihnen abstammenden Manuskripte. Sowohl N als auch alle Zwischenstufen sind nicht erhalten und müssen über die von ihnen abgeleiteten Abschriften ermittelt werden. Die Großbuchstaben sind Siglen und stehen für die einzelnen Manuskripte. Stemma nach Ogilvie:[29] Dritte DekadeVon der dritten Dekade kamen drei Handschriften ins Mittelalter. Die wichtigste von ihnen ist der aus dem 5. Jahrhundert stammende Codex Puteaneus (Sigle P; heute Paris, BnF, lat. 5730[40]), der jetzt am Anfang und Ende verstümmelt ist. Es existieren von ihm aber mehrere den kompletten ursprünglichen Text enthaltende Abschriften, vor allem der im 9. Jahrhundert verfasste Codex BAV Reg. lat. 762 (Sigle R)[41] und der etwa im 11. Jahrhundert entstandene Parisinus Colbertinus (Sigle C; heute Paris, BnF, lat. 5731)[42]. Die beiden anderen, vom Puteaneus unabhängigen Codices umfassten nur die Bücher 26–30. Der eine befand sich im Besitz des Klosters Bobbio. Zu ihm gehörten acht zunächst erhalten gebliebene Blätter eines Turiner Palimpsests des 5. Jahrhunderts, von denen jedoch eines abhandenkam, ehe es Wilhelm Studemund 1869 analysieren konnte, während die sieben weiteren Blätter 1904 verbrannten. Der andere, ebenfalls verlorene Codex war eine aus Speyer stammende Handschrift, der Spirensis (Sigle S). Dieser Codex wurde von Sigismund Gelenius und Beatus Rhenanus in der Basler Livius-Ausgabe von 1535 verwendet[43] und konnte aus deren Zeugnissen sowie jüngeren Handschriften vom deutschen klassischen Philologen August Luchs rekonstruiert werden.[44] Vierte DekadeAuch von der vierten Dekade gelangten drei (voneinander unabhängige) Handschriften ins Mittelalter. Eine von ihnen entstand im 5. Jahrhundert, lag um das Jahr 1000 für Kaiser Otto III. in Piacenza bereit und kam schließlich durch dessen Nachfolger Kaiser Heinrich II. nach Bamberg, wo am Anfang des 20. Jahrhunderts Reste von ihr aus den Büchern 33, 34, 35 und 39 in anderen Handschriften auftauchten und ausgelöst wurden (heute Bamberg, Staatsbibliothek, Msc.Class.35a).[45] Weitere Fragmente der gleichen Handschrift (aus Buch 34) wurden im Jahr 2000 in einer anderen Bamberger Handschrift (Msc.Bibl.18) entdeckt und dort belassen. Auch wenn diese spätantike Handschrift also überwiegend verloren ist, ist ihr Inhalt gut bekannt, da im 11. Jahrhundert in Bamberg eine Abschrift angefertigt wurde (Msc.Class.35), die die vierte Dekade bis zum 46. Kapitel des 38. Buchs umfasst und damit der wichtigste Textzeuge für diese Dekade ist.[46] Eine weitere Abschrift, bei der das 33. sowie das Ende des 40. Buchs fehlten, wurde wiederum ihrerseits kopiert; und so entstanden aus ihr ein verlorener Spirensis (Sigle S) und mehrere jüngere italienische Handschriften. Die zweite ins Mittelalter gekommene Handschrift des 4. oder 5. Jahrhunderts (Sigle R; heute BAV, Vat. lat. 10696) stammte aus dem Lateran, von der Fragmente aus dem 34. Buch vorhanden sind. Schließlich bildete ein verlorenes drittes, spätantikes Manuskript die Vorlage der ebenfalls nicht mehr existierenden Mainzer Handschrift des 9. Jahrhunderts, deren vom 17. Kapitel des 33. Buchs bis zum Ende des 40. Buchs reichender Text durch zwei Druckausgaben bekannt ist (Mainz 1519[47] und Basel 1535) und den zweiten Hauptzeugen der vierten Dekade darstellt.[48] Fünfte DekadeVon der fünften Dekade ist nur die erste Hälfte (Bücher 41–45) durch eine einzige erhaltene Handschrift des 5. Jahrhunderts, den Codex Vindobonensis Lat. 15 (Sigle V; heute Wien, ÖNB, Cod. 15), bekannt. Durch Blattausfall besitzt dieses erst 1527 vom Humanisten Simon Grynaeus im Kloster Lorsch aufgefundene Manuskript mehrere, teilweise auch große Lücken, insbesondere in Buch 41 und 43. Ursprünglich waren auch die Bücher 46–50 in dem Codex niedergeschrieben.[49] Fragmente und EpitomenPaul Jakob Bruns spürte 1772 in einem Palimpsest-Doppelblatt des Vaticanus Palatinus Latinus 24 ein Textstück auf, das die 76 v. Chr. geführten Kämpfe des römischen Politikers und Feldherrn Quintus Sertorius in Spanien erörtert und aus dem 91. Buch von Livius’ Geschichtswerk stammt.[51] Eine kleine Textstelle von ungefähr 40 Wörtern, die vermutlich aus Buch 11 stammt, wurde auf einem Papyrus in Deir el Malak gefunden und erstmals 1988 publiziert.[52] Weitere kleine Fragmente befinden sich in verschiedenen Bibliotheken vor allem in Europa, enthalten aber nur bereits in den mittelalterlichen Handschriften überlieferte Textpassagen.[53] Dazu gehört etwa ein Papyrus aus Oxyrhynchus (P. Oxy. XI 1379) des 3./4. Jahrhunderts, der einen Teil des fünften und den Anfang des sechsten Kapitels des ersten Buchs wiedergibt, aber textkritisch unerheblich ist.[54] Aus den verlorenen Partien des livianischen Werks gibt es einige wenige wörtliche Zitate bei anderen antiken Autoren, insbesondere die vom älteren Seneca aus dem 120. Buch des Livius ausgeschriebene Darstellung des Todes Marcus Tullius Ciceros und die Charakteristik dieses berühmten römischen Redners.[55] Ferner informieren über den Inhalt des Verlorenen systematische Auszüge, Epitome genannt, insbesondere die im 4. Jahrhundert verfassten periochae, die zu allen 142 Büchern außer zum 136. und 137. existieren und einen Umfang von wenigen Zeilen (zum Beispiel periocha 138) bis zu mehreren Seiten (periochae 48 und 49) aufweisen.[56] Der Epitomator gestaltet den Text literarisch in ganzen Sätzen, ordnet den Stoff nach sachlichen Prinzipien an, berichtet die ihm am bedeutendsten erscheinenden Fakten und gibt zudem, meist am Ende, eine Inhaltsangabe des jeweiligen Buchs.[57] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde außerdem auf einem Oxyrhynchus Papyrus des 3./4. Jahrhunderts (P. Oxy. IV 668) eine weitere Version von Inhaltsangaben entdeckt. Lückenhaft erhalten blieben durch diesen Fund Auszüge aus den Büchern 37–40, 48–55 und 87–88, die in der Form von der schon zuvor bekannten periochae-Version unter anderem dadurch abweichen, dass sie den Stoff chronologisch darstellen.[58] Des Weiteren stellte Cassiodor laut seinem eigenen Zeugnis die Konsulliste seiner Chronik, für die Zeit bis 31 n. Chr., aus den historischen Werken des Livius und Aufidius Bassus zusammen. Iulius Obsequens exzerpierte nur aus Livius systematisch die Prodigien, und jene für die Jahre 190–11 v. Chr. blieben erhalten. Auch manche Breviarien späterer, aus Livius schöpfender Autoren wie Florus tragen zur Rekonstruktion der nicht mehr existenten Teile des livianischen Werks bei.[59] Quellen und KritikLivius entnahm den Stoff für seine umfassende Darstellung der römischen Geschichte hauptsächlich älteren historischen Schriften und musste dazu eine Reihe von Vorlagen auswerten.[60] In der modernen Forschung stellen die Ermittlung seiner Quellen und seiner Methoden für deren Benutzung vor allem für die erhaltenen Teile seines Werks einen wesentlichen Schwerpunkt dar. Allerdings sind die meisten seiner Quellenschriftsteller bis auf geringe Fragmente verloren. Nur beim griechischen Historiker Polybios, von dessen Universalgeschichte beträchtliche Teile überliefert sind, ist streckenweise auch über längere Partien ein direkter Vergleich mit Livius möglich. So enthalten Livius’ 21. und 22. Buch und das 3. Buch von Polybios’ Historíai parallele Texte über die Anfangsphase des Zweiten Punischen Kriegs. Aufgrund dieser schlechten Überlieferungslage konnte die Forschung eher allgemeinere gesicherte Erkenntnisse über Livius’ Quellenbenutzung als im Detail erreichen. Zwar war Livius nicht so wie die kurz vor ihm schreibenden römischen Annalisten der späten Republik Parteipolitiker, was bei diesen Autoren öfters zu teils auch gröberen Verfälschungen der Überlieferung (etwa der Scipionenprozesse durch Valerius Antias) führte, doch interessierte er sich nicht sonderlich für die kritische Prüfung seiner Vorlagen.[61] So verwendete er kaum urkundliches Material, sondern hauptsächlich Sekundärquellen. Er hielt sich für bestimmte längere Abschnitte jeweils an dieselbe Hauptquelle, etwa für Ereignisse im Osten an Polybios, überprüfte und ergänzte seine Hauptvorlage aber anhand weiterer Quellen.[62] Bisweilen führt er seine Gewährsmänner an, vor allem bei nicht übereinstimmend überlieferten Vorgängen. Bei solchen Gelegenheiten nennt er zuerst seine Hauptquelle, danach die der Kontrolle dienende Vorlage für die abweichende Darstellung.[63] Wenn er auch öfters anmerkte, wo seine Vorlagen voneinander abwichen,[64] so sollte daraus dennoch nicht geschlossen werden, er habe ein kritisches Quellenstudium betrieben. Seine Zuverlässigkeit hängt deshalb stark von der Glaubwürdigkeit des jeweils verwendeten Gewährsmannes ab.[65] Nur wenig lässt sich zur Quellenbenutzung für die erste Dekade konstatieren. Für die früheste Zeit hat Livius wohl den ältesten römischen Historiker, Quintus Fabius Pictor, zumindest indirekt konsultiert.[66] Meist stützte er sich aber auf römische Annalisten des 1. Jahrhunderts v. Chr., so insbesondere Valerius Antias und Gaius Licinius Macer, daneben auch auf Quintus Aelius Tubero, dessen Verwendung wohl öfters eine Umbiegung der Darstellung des Macer im optimatischen Sinn bewirkte. Ab dem 6. Buch taucht auch Quintus Claudius Quadrigarius als Quellenautor auf.[63] Für den in der dritten Dekade dargestellten Zweiten Punischen Krieg verwendete Livius die darüber berichtende Monographie des Lucius Coelius Antipater. Als weitere Hauptautoren sah er wiederum Valerius Antias und Claudius Quadrigarius ein, die sich zum Teil als unzuverlässig erwiesen, wie Livius bereits früher selber festgestellt hat.[67] Der als sehr verlässlich geltende Polybios dürfte hingegen anfangs nur indirekt Material geliefert haben. Erst in der vierten und fünften Dekade zog Livius für die Schilderung von Vorkommnissen, die sich im Osten des Römischen Reichs abspielten, Polybios direkt, und zwar als Hauptquelle, zu Rate, wobei sich dieser als hervorragender Gewährsmann erwies.[68] Für stadtrömische Ereignisse sowie für solche in Italien und im Westen des Römischen Reichs (Gallien, Iberische Halbinsel) erwählte sich Livius nach wie vor Valerius Antias und Claudius Quadrigarius – trotz der von ihm bei diesen Historikern erkannten Mängel – als Vorlagen, wohl weil er bei ihnen reicheren Stoff fand. Über die Quellenlage in den verschollenen Teilen seines Geschichtswerks lässt sich naturgemäß wenig feststellen. In Betracht kommen unter anderem der griechische Geschichtsschreiber und Philosoph Poseidonios, der eine Fortsetzung der Historien des Polybios verfasste, sowie Schriften römischer Historiker und Staatsmänner wie die Autobiographie Sullas, die (erhaltenen) Commentarii Gaius Iulius Caesars, die Historien Sallusts und das den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius behandelnde Werk des Gaius Asinius Pollio. Für die Zeitgeschichte behandelnden Bücher konnte Livius auch eigene Kenntnisse einbringen. Da zu den verlorenen Büchern die gesamte von Livius dargestellte selbst erlebte Zeit gehört, lässt sich über ihn nur ein recht einseitiges Bild gewinnen.[69] Livius-Kenner, wie zum Beispiel Wilhelm Weißenborn, kritisieren die mangelhafte Überprüfung der ihm zur Verfügung stehenden Quellen, für das sie aber angesichts des Umfangs des Werks ein gewisses Verständnis zeigen.[70] Zudem weisen sie auf Oberflächlichkeiten hin, wenn es darum geht, Details im Staatsaufbau oder im Kriegswesen zu beschreiben.[71] Als Ursache benennen sie die fehlende öffentliche Stellung des Livius in der römischen Gesellschaft (im Gegensatz zu mehreren anderen römischen Geschichtsschreibern, wie zum Beispiel Quintus Fabius Pictor),[72] die es verhindert habe, dass er unmittelbaren Zugang zu Quellen aus dem Staats- und Kriegswesen oder auch der Priesterschaft hatte. Zum Teil habe er wahrscheinlich aus diesem Grund genauere Quellen gar nicht richtig verstanden.[73] Im Weiteren weise das Werk geographische Fehler auf, die auf eine fehlende Reisetätigkeit hinweise.[74] Ferner sind ab und zu infolge eines Quellenwechsels verursachte Doppelfassungen desselben Ereignisses, falsche Übersetzungen des griechischen Textes des Polybios und chronologische Unstimmigkeiten festzustellen.[65] Was die Art und Weise der Quellenbenutzung betrifft, so war Livius’ vorrangiges Interesse nicht Wahrheit im Sinne von Historizität, obwohl er als Quellen die Annalistik mit ihren vielen Informationen aus dem Staatswesen, religiösen Anlässen und dem Kriegswesen hinzuzog.[5] In erster Linie war er daran interessiert, die Sitten und Personen, die Rom zu seiner Größe verholfen haben, der zeitgenössischen Gesellschaft wieder ins Gedächtnis zu rufen. „Römische Geschichte schreiben heißt, die bona exempla aufzuzeigen, die von echten Männern gegeben wurden, auf Grund von altüberkommener Lebensführung gegeben werden konnten.“[75] Dies entspricht einem Konzept der Geschichtsschreibung, das schon Platon in seiner Politeia propagiert. In der Vorrede zu den ersten fünf Büchern liefert Livius selber den Schlüssel zu seinen Absichten und zum Verständnis seines Werks:[76]
Robert Maxwell Ogilvie meint dazu:[5]
ErzähltechnikLivius folgte im Aufbau seines Werks dem annalistischen Schema, die Ereignisse Jahr für Jahr abzuhandeln; das resultiert aus der Abfassungszeit wie aus dem Vorbild der Quellen.[77] Er erreicht die Empfindung großen Abwechslungsreichtums durch oftmaligen Themenwechsel, etwa durch den Übergang von der Außen- zur Innenpolitik und umgekehrt, wobei zum Beispiel diplomatische Missionen oder Verlegungen von Heeren bequem von einem zum nächsten Schauplatz weiterführen, ohne dass der Überblick verloren geht. Jedes Jahr wird mit dem Bericht über den Amtsantritt der Magistrate, die Verteilung der Provinzen, die aufgetretenen Prodigien und die Gesandtschaften eingeleitet. Danach setzt die Schilderung von Kriegen, Triumphen, Wahlkämpfen, religiösen Festakten und Anderem ein.[78] Wie Livius durch den Einsatz diverser Techniken die Überschaubarkeit des Geschehens im Großen erreicht, sucht er es im Kleinen durch Einzelerzählungen zu illustrieren. Umfangreichere Ereigniskomplexe werden in eine Folge von Szenen aufgeteilt, die mittels feiner Übergänge ineinander überführen und auf einen Höhepunkt zusteuern. Der maßvoll nach dramatischer Darstellungsweise strebende Autor orientierte sich bis zu einem gewissen Grad an der „tragischen“ Geschichtsschreibung, die etwa von Duris von Samos angewandt wurde und die den Leser emotional erschüttern wollte. Livius lässt auch öfter Peripetien ganz abrupt eintreten. Schaurige Ausmalung mancherlei Auswirkungen des Geschehens im Sinne eines krassen Naturalismus meidet er; erörtert dafür aber mit Vorliebe die seelischen Folgen von Vorkommnissen sehr eindringlich und fühlt häufig mit den Verlierern mit, bisweilen auch, wenn es sich nicht um Römer handelt. Zu seinen Techniken gehört auch, Personengruppen ein Ereignis beobachten und beurteilen zu lassen, um dieses so von mehreren Seiten zu beleuchten.[79] Ein weiteres wichtiges Ziel des Schriftstellers ist die Anschaulichkeit, weshalb er etwa oft Gespräche und Einzelleistungen in den Vordergrund stellt. So wird der angeblich um 361 v. Chr. am Ufer des Anio ausgetragene Zweikampf des Titus Manlius Imperiosus Torquatus mit einem gallischen Recken sehr bildhaft aus Sicht der zuschauenden gegnerischen Heere beobachtet;[80] und hier ist der Vergleich mit der entsprechenden älteren Darstellung des Annalisten Quintus Claudius Quadrigarius möglich, da sie im Wortlaut durch Aulus Gellius[81] erhalten ist. Livius bemüht sich des Weiteren, nicht nur die Ereignisse selbst zu erörtern, sondern auch das Heranreifen von Entscheidungen und Plänen, die zu den Taten führen, zu enthüllen. Generell ist beim Autor ein Trachten nach Klarheit der Darstellung vorherrschend. Bei der Schilderung von größeren Gefechten achtet er beispielsweise auf die Erläuterung der Topographie, Kriegsstrategien und Beweggründe, eine korrekte zeitliche Abfolge und die Zerlegung des militärischen Geschehens in einzelne Phasen und örtliche Teilgebiete wie die beiden Flügel der Armeen und das Zentrum des Schlachtfeldes. Obgleich ihm wenig kriegerisches Verständnis zugetraut wird, beschreibt er bisweilen die während Schlachten durchgeführten Manöver sogar verständlicher als Polybios,[82] ohne dabei an Gehalt einzubüßen. Ferner dient dem Autor die Kürze im Wechsel mit Breite der Darstellung der Betonung bedeutender Momente. Die verheerende Niederlage der Römer in der Schlacht von Cannae gegen Hannibal 216 v. Chr. schildert er wesentlich kürzer als die römischen Reaktionen darauf und erreicht hierbei, dass der Eindruck von Unbeugsamkeit in kritischer Situation dominiert.[83] Livius’ Hang zu Anschaulichkeit und künstlerischer Anlage seiner Darstellung führt bisweilen auch zu Entstellungen der Wahrheit. Zur scharfen Herausarbeitung von Einzelerzählungen beseitigt er öfters scheinbar unnötiges fachmännisches Beiwerk seiner Vorlage, zieht unterschiedliche Vorgänge zeitlich zusammen oder bringt sie miteinander in Verbindung. Beispielsweise referiert Polybios (Historíai 27, 4) über eine vom Makedonenkönig Perseus nach Rhodos entsandte Delegation und im nächsten Kapitel (Historíai 27, 5) über eine weitere nach Boiotien geschickte Gesandtschaft; bei Livius (Ab urbe condita 42, 46) wird daraus eine einzige Delegation, die zuerst Rhodos, dann Boiotien besucht.[84] 184 v. Chr. geführte Verhandlungen Philipps V. mit römischen Bevollmächtigten verdichtet Livius zu einer einzigen Unterredung.[85] Ferner tauchen in Reden, die sich in Livius’ Geschichtswerk reichlich finden, häufig Angaben auf, die nicht zu den aus den Gewährsmännern übernommenen Berichten passen. So werden in einer Rede alle Decemviri legibus scribundis als Patrizier dargestellt,[86] obwohl laut der Tradition dem zweiten Kollegium auch Plebejer angehörten.[84] Zur Charakterisierung von Persönlichkeiten bedient sich Livius sowohl der direkten als auch der indirekten Methode. Er würdigt seine Protagonisten öfters anlässlich ihres Ablebens, zum Beispiel den Redner Cicero[87] oder charakterisiert sie knapp bei ihrer Vorstellung, so Hannibal.[88] Indirekte Charakterisierung kann durch Reden und Dialoge, aber auch durch die Gegenüberstellung zweier Personen erfolgen. Diese stellen nicht selten gegensätzliche Typen dar; so kontrastiert etwa der militärisch Hannibal gegenüber nur hinhaltenden Widerstand leistende Diktator Quintus Fabius Maximus Verrucosus mit seinem kriegerisch viel offensiver vorgehenden Reiterführer Marcus Minucius Rufus.[89] Mitunter typisiert Livius ganze Völker stark simplifizierend kollektiv, wenn er unter anderem von wortbrüchigen Puniern spricht. Bei römischen Adelsfamilien knüpft er an die Annalistik an, wenn er ihnen bestimmte Eigenschaften zuordnet; so hätten Valerier eine volksfreundliche Haltung aufgewiesen, während Claudier herrisch und hochmütig gewesen seien. Sehr positiv im Sinn der Verkörperung römischer virtus zeichnet er Scipio. Allerdings weist er auch auf manche von dessen Schattenseiten hin, während er Hannibal zwar anfangs als ungläubigen und treulosen Karthager charakterisiert, ihn später aber im Widerspruch dazu fromm und pflichttreu handeln lässt und eine gewisse Bewunderung für ihn zeigt. Somit skizziert er seine Heldengestalten nicht zu einseitig. Auch der Seele des weiblichen Geschlechts widmet er Aufmerksamkeit; nicht nur altrömische Tugendheldinnen wie Lucretia, sondern auch strebsame Frauen wie Tanaquil sollten beachtet werden.[90] Im Allgemeinen überwiegt bei Livius die indirekte Darstellungsweise, bei der die Person des Autors hinter die Erzählung der Ereignisse zurücktritt. Diese Methode wählte bereits Thukydides, während Polybios anhand seiner Geschichtsschreibung für das praktische Leben belehren will und dabei subjektiv selbst urteilend auftritt. Die indirekte, von Livius verwendete Darstellungsform betont mehr das Künstlerische, die direkte, der sich Polybios bedient, zielt hingegen eher auf die wissenschaftliche Analyse. Zwar will auch Livius belehren, doch verflicht er sein Urteil in die Handlung und macht sie zum Teil der Erzählung. Polybios berichtet beispielsweise,[91] dass Scipio die ihm von den Iberern angebotene Titulierung als König ablehnte und fährt fort, dass eine solch noble Geisteshaltung angesichts Scipios geringem Alter und seiner großen militärischen Erfolge äußerst zu bewundern sei. Auch Livius berichtet ähnlich über dieses Ereignis,[92] doch beurteilt er es nicht selbst, sondern lässt die Scipio umstehenden Iberer dessen Geisteshaltung wertschätzen. Die indirekte Darstellungsweise verlässt er vor allem, wenn er an Sachverhalten Zweifel hat. Ferner tritt er mit seiner Persönlichkeit beispielsweise dann hervor, wenn er auf Alexander den Großen zu sprechen kommt und wortreich darlegt,[93] warum der große Eroberer niemals die Römer hätte bezwingen können. Anscheinend reagierte Livius hier auf die in Rom große Erregung erzeugende Behauptung eines zeitgenössischen griechischen Geschichtsschreibers, vielleicht des Timagenes von Alexandria, Rom hätte einem Angriff Alexanders nicht zu widerstehen vermocht.[94] Sprache und StilDie Rede spielt, wie generell in der antiken Historiographie, eine große Rolle.[96] Allerdings wäre die moderne, an Quellenkritik geschulte Vorstellung falsch, es handele sich um wörtlich so gehaltene Reden. Dagegen waren verpflichtend für Livius, wie für den antiken Historiker überhaupt, sprachlich eine gewisse Umstilisierung und vor allem inhaltlich die Konzentration auf die vom Geschichtsschreiber als wesentlich erkannten Elemente des Sachverhalts.[97] Arnold Reichenberger schreibt zum Vergleich einer Rede zwischen Dionysios von Halikarnassos und Titus Livius:[98]
Livius’ Sprache ist von Ausdruckskraft und Vielfältigkeit geprägt. Er erweitert den Wortvorrat der Schriftsprache, indem er Verbalsubstantive in Attribute oder den üblichen Gebrauch von Substantiven oder Adverbien in Attribute umwandelt oder er kreiert adverbiale Ausdrücke anstatt des üblichen Adjektivs. Er verwendet Wortformen und Wortfügungen freier als andere Prosaiker und entlehnt sie teilweise aus der dichterischen Darstellung oder bildet sie dem Griechischen nach. Auch in anderen Bereichen der Sprache, wie bei den Fällen, des Partizips oder des Infinitivs nimmt er sich seine Freiheiten, so dass eine „Mannigfaltigkeit der Livianischen Sätze entsteht“.[99] Eine antike Kritik an Livius’ Stil überliefert Quintilian an zwei Stellen seiner Institutio oratoria: Gaius Asinius Pollio „tadelt an Livius die Patavinitas“[100] und „ist der Meinung, bei Titus Livius, einem bewundernswert sprachmächtigen Mann, finde sich eine gewisse Patavinitas“.[101] Es muss sich dabei um eine auf Patavium, Livius’ Heimatstadt, bezogene Sprachkritik gehandelt haben. Es ist aber weder klar, worin diese Patavinismen bestanden, noch ob Quintilian selbst wusste, was Pollio damit meinte.[102] Historiographische TendenzOhne Zweifel nimmt Livius in Ab urbe condita eine pro-römische Haltung ein, wie er selber bereits im Vorwort zu den ersten fünf Büchern schreibt:
Robert Maxwell Ogilvie bemerkt dazu in seinen Kommentaren: „Rome was to be, as L. is at pains to repeat, caput rerum“.[104] Livius’ Werk nimmt, wie die antike Geschichtsschreibung generell, eine ambivalente Position zwischen Literatur und Geschichtswissenschaft ein. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in den Diskussionen und Sichtweisen der jüngeren Forschung. Dennis Pausch, ein Vertreter der neueren Generation von Livius-Forschern, unterscheidet dabei zwischen einer „historisch-kritischen“ Herangehensweise und einem „literarisch-postmodernen“ Ansatz. Da die „historisch-kritische“ Forschungsrichtung über einen längeren Zeitraum die Oberhand innehatte, hat sie wesentlich zu einem eher negativen Bild des Autors beigetragen.[105] Seit Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts findet wieder eine intensivere Auseinandersetzung mit literarischen Aspekten statt, die Dennis Pausch folgendermaßen zusammenfasst:
RezeptionAltertum und MittelalterDie literarisch qualitätsvoll aufbereitete Geschichtsdarstellung des Livius verdrängte bereits in der Frühen Kaiserzeit fast völlig die Werke seiner annalistischen Vorgänger. Daran änderte auch die Kritik des Gaius Asinius Pollio an Livius’ Stil[107] und der Versuch des Kaisers Caligula, ihn aus den Bibliotheken zu verbannen,[108] nichts. Livius war der letzte Annalist und seine Beschreibung der Geschichte der Republikszeit galt bald als maßgeblich. Quintilian verglich ihn mit Herodot und meinte, von den anderen römischen Historikern könne nur Sallust mit ihm konkurrieren.[109] Seneca der Ältere lobte, dass Livius eine große Kunstfertigkeit bei der Charakterisierung von Persönlichkeiten besäße.[110] Tacitus hob hervor, dass Livius glaubwürdig und beredsam geschrieben habe.[111] Mettius Pompusianus exzerpierte zur Zeit Domitians die livianischen Reden der Könige und Feldherren.[112] Livius’ Werk lieferte auch Material für den römischen Rhetorikunterricht,[113] die Exempla des Valerius Maximus und die Kriegslisten des Frontinus.[114] Lucan wählte Livius zum Hauptgewährsmann für die Darstellung des Bürgerkriegs zwischen Caesar und Pompeius in seinem unvollendeten Epos De bello civili. Ferner war Livius die wichtigste Quelle für die Punica des Silius Italicus.[115] Auch der Historiker Cassius Dio und der Biograph Plutarch dürften aus Livius geschöpft haben.[116] Der große Umfang von Livius’ Werk gefährdete aber dessen Überlieferung. Wohl schon im 1. Jahrhundert wurden Auszüge und Zusammenfassungen angefertigt. Zur Zeit des Kaisers Hadrian stellte etwa Florus eine kurze Skizze der Geschichte Roms hauptsächlich auf der Basis von Livius zusammen. Später folgten Eutropius, Orosius und andere bei der Verfassung ihrer Breviarien dieser Tradition. In der späten römischen Kaiserzeit und der Spätantike war es ohnehin üblich, umfangreiche Werke durch stark gekürzte Zusammenfassungen (sogenannte Epitomen) zu ersetzen, wovon auch das Geschichtswerk des Livius betroffen war. In der Spätantike wurde das Werk, das bisher in Form von Buchrollen niedergeschrieben war, in das neue Medium des Kodex übertragen. Um 400 n. Chr. plante der heidnische Senator Quintus Aurelius Symmachus[117] eine neue, korrigierte Edition des vollständigen Livius-Textes.[118] Ob er bei der Realisierung seines Vorhabens über die erste Dekade hinauskam, ist fraglich, da er bereits 402/403 starb.[119] Symmachus’ Unternehmen war jedenfalls auch ein Ausdruck der Hinwendung der ständige Opposition gegen das christliche Kaisertum betreibenden heidnischen Senatorenkreise zum livianischen Werk, das sie als Lobpreisung der moralischen und politischen Integrität der Senatsherrschaft verstanden. In einer Phase unverkennbarer Auflösungserscheinungen des weströmischen Reichs sahen die paganen Senatoren wie Livius die frühe Republik als Ideal. Deshalb erhielt das Geschichtswerk aber auch den Stempel heidnischer Stigmatisierung, was dazu beigetragen haben wird, dass es nicht in seinem Gesamtbestand überliefert wurde (die größten Textverluste dürften in der Übergangszeit von der Spätantike zum Frühmittelalter eingetreten sein) und in mittelalterlichen Bibliotheken eher spärlich vertreten war.[120] Klärungsbedarf besteht noch bezüglich Livius’ Bedeutung für die karolingische Renaissance. Jedenfalls wurde eine die dritte Dekade seines Geschichtswerks umfassende Handschrift, der Puteaneus Parisinus Latinus 5730, in der Hofbibliothek Karls des Großen aufbewahrt. Vielleicht orientierte sich dessen Biograph Einhard stilistisch an Livius. Als Kaiser Otto I. 967 nach Verona kam, übergab ihm Bischof Ratherius einen Prachtkodex, den die erste Dekade von Ab urbe condita umfassenden Codex Mediceus Laurentianus 63, 19. Livius wurde dennoch nur von wenigen mittelalterlichen Historikern und Intellektuellen gelesen und übte nur geringen Einfluss auf Literatur und Kunst aus, da er bis ins 12. Jahrhundert nicht als Schulautor anerkannt war. Vor allem Lampert von Hersfeld benutzte ihn reichlich; und immerhin führen Bibliotheksverzeichnisse des 12. Jahrhunderts nicht selten auch Livius-Handschriften an.[121] RenaissanceDer italienische Gelehrte, Dichter und Richter Lovato Lovati (1240/41–1309) begründete im 13. Jahrhundert die Wiederentdeckung von Livius auf der Apenninhalbinsel. Er stammte ebenso wie der antike römische Historiker aus Padua. Daraufhin imitierte etwa der Frühhumanist Albertino Mussato Livius in seinem die italienische Geschichte unmittelbar nach dem Tod Kaiser Heinrichs VII. (1313) darstellenden Werk De Gestis Italicorum Post Henricum VII Caesarem. Dante Alighieri[122] pries Livius als Geschichtsschreiber, der nie irre. Jean de Meung benutzte die von Livius überlieferte fiktive Erzählung von Verginia, einer angeblich in der frühen römischen Republik lebenden Plebejerin, in seinem Rosenroman. Der anglo-normannische Chronist Nicholas Trivet schrieb um 1318 auf Betreiben des Papstes Johannes XXII. einen Kommentar zu den Büchern 1–10 sowie zu den die Auseinandersetzung mit Hannibal beschreibenden Büchern 21–30 von Ab urbe condita. Größere Kreise kannten aber anscheinend nur einzelne Inhalte – vor allem dramatische Gestalten wie Lucretia und Gnaeus Marcius Coriolanus – aus den ersten vier Büchern von Livius’ Geschichtswerk, und auch dies meist durch indirekte Vermittlung. Erst Francesco Petrarca konnte im frühen 14. Jahrhundert handschriftlich eine Ausgabe der ersten, dritten und vierten Dekade des Werks veranstalten; sie befindet sich heute als Codex Harleianus 2493 in der British Library. Petrarca war auch sonst von Livius fasziniert; in seinem lateinischen Epos Africa (1339–1342) erkor er Scipio zum Helden.[123] Giovanni Boccaccio verfasste von 1356 bis 1364 seine Biographiensammlung De mulieribus claris berühmter mythologischer und historischer Frauen, von denen einige wie Lucretia, Cloelia, Verginia, die Matrone Claudia Quinta sowie die karthagische Adlige Sophonisbe Gegenstücke zu livianischen Frauengestalten darstellen. Während sich also Boccaccio im Fall der Lucretia an Livius als Vorbild hielt, machten sich bei der gleichen Figur zum Beispiel Geoffrey Chaucer in der Legenda Lucrecie (Legend of Good Women, 1373–1387) und William Shakespeare in seiner 1594 erschienenen Versdichtung The Rape of Lucrece eher die Schilderung, die Ovid in seinen Fasti (2, 721–852) gab, zu eigen.[124] Die italienische Renaissance bildete den Ausgangspunkt für Livius’ Popularität als Schulautor. Sein Werk wurde wegen dessen Beispielen für Kriegstaktiken, staatsmännischer Vernunft und Tugenden – die etwa in Fürstenspiegeln behandelt wurden – zu Rate gezogen. Die Humanisten erblickten in Livius den bedeutendsten römischen Geschichtsschreiber. Boccaccio übersetzte ihn ins Italienische, und der Benediktiner und Autor Pierre Bersuire schuf in den Jahren 1352–1359 auf Anweisung des Königs Johann II. von Frankreich auf der Basis der Handschrift seines Freundes Petrarca eine französische Übersetzung. Die Version Bersuires diente wiederum dem kastilischen Politiker und Historiker Pero López de Ayala 1407 für Livius’ Übertragung in Spanische sowie John Bellenden für eine solche in Schottische.[124] Der Humanist Lorenzo Valla fügte Anmerkungen in das von Petrarca erstellte Livius-Manuskript ein. 1469 wurde die Editio princeps des lateinischen Textes durch die beiden Inkunabeldrucker Arnold Pannartz und Konrad Sweynheym in Rom veröffentlicht; allerdings enthielt diese Ausgabe nicht Buch 33 sowie die damals noch nicht entdeckten Bücher 41–45. Papst Nikolaus V. hatte bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts Enoch von Ascoli mit der Suche nach Manuskripten der verlorenen Teile des livianischen Werks in Nordeuropa beauftragt, welche Mission indessen erfolglos geblieben war. Simon Grynaeus fand 1527 im Kloster Lorsch die einzige lückenhaft erhaltene Handschrift der Bücher 41–45 auf. Er gab daraufhin 1531 in Basel den erhaltenen Livius-Text erstmals ziemlich vollständig heraus (bis auf den Anfang des 33. Buchs, den erst der Jesuit Horrio 1615 in einem Bamberger Codex aufspürte).[125] Eine kritisch wichtige Edition legten Beatus Rhenanus und Sigismund Gelenius (Genf 1535) vor.[126] 1505 war eine deutsche Livius-Übersetzung herausgekommen, 1544 wurde der antike Autor teilweise ins Englische übertragen.[127] Livius regte mit seinen Schilderungen der großen Vergangenheit Roms in der europäischen Renaissance auch künstlerische Nachgestaltungen an, so zuerst Szenen aus der römischen Frühzeit in Sälen öffentlicher Gebäude in italienischen Städten. Es wurden unter anderem Freskenzyklen mit Abbildungen des römischen Zensors und Konsulartribuns Marcus Furius Camillus oder des Konsuls und Diktators Quintus Fabius Maximus Verrucosus geschaffen, so etwa in Padua, im Palazzo Vecchio in Florenz sowie um 1538 im Palazzo Massimo in Rom durch den italienischen Maler und Bildhauer Daniele da Volterra. Auch die Illustrationen der Livius-Editionen dieser Epoche gehören zur damaligen künstlerischen Rezeption von Ab urbe condita.[128] Niccolò Machiavelli verfasste auf Basis der Erzählungen des Livius in seinem Hauptwerk Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1513–1517) die erste neuzeitliche politisch-philosophische Analyse des Staatswesens.[129] NeuzeitAb dem 19. Jahrhundert bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lektüre ausgewählter Livius-Passagen ein fester Bestandteil des Lateinunterrichts in Deutschland. Gelesen wurde er in der Sekunda (10. und 11. Klasse) vor allem unter dem Aspekt der als vorbildhaft dargestellten „römischen Tugenden“.[131] In den Lehrplänen für die Mittelstufe seit den 1970er Jahren spielt Livius nur noch eine untergeordnete Rolle.[132] Im 19. Jahrhundert wurden die Grundlagen für das moderne Verständnis geschaffen. Barthold Georg Niebuhr war der Wegbereiter für die philologisch-kritische Geschichtswissenschaft, die in die Livius-Forschung Einzug hielt. Die Altphilologen zogen nach und auf die nun folgenden Ausgaben konnte sich die Wissenschaft bis zur heutigen Zeit stützen. Im 20. Jahrhundert setzte sich der Trend zur kritischen Quellforschung fort und Errungenschaften aus anderen wissenschaftlichen Zweigen wie die Münzkunde und die Archäologie wurden in die Forschungsergebnisse integriert. In Fachkreisen ist das Interesse nach wie vor ungebrochen. Das zeigt sich in immer wiederkehrenden Studien und Dissertationen.[133] Titus Livius’ Schriften sind bis heute in Wissensgebieten wie Archäologie, Geographie, Geschichte, Medizin, Kunst, Literatur, Münzkunde, Politik und Zoologie präsent[134] und er wird gern zitiert.[135] Der zeitgenössische Alltag kennt Redewendungen wie „Es ist noch nicht aller Tage Abend“ oder „Lieber spät als nie“ (potiusque sero quam nunquam)[136]. Unsere Rechtsauffassung wird beeinflusst von „Wo kein Wille ist, ist auch keine Schuld.“ und wenn wir „Himmel und Erde in Bewegung setzen“, versuchen wir, unseren Willen mit allen Mitteln durchzusetzen.[137] AusgabenDie erste gedruckte Ausgabe wurde in Rom von Arnold Pannartz und Konrad Sweynheym im 15. Jahrhundert (wahrscheinlich 1469) herausgegeben. Die Ausgabe war ein großer Erfolg und verbreitete sich rasch in Italien, Deutschland und Frankreich.[138] Jüngere Ausgaben stützen sich nicht auf die erste gedruckte, da diese wie die darauf folgenden unter Altphilologen zu umstritten waren.[138] Durch die kritische Haltung, die sich bis zur Gegenwart erhalten hat, sind Ausgaben entstanden, die sich immer von Neuem die ältesten erhaltenen Handschriften vorgenommen und mit den bereits vorhandenen Ausgaben verglichen haben.[139] Im Zug der Zeit, zusammen mit neuen Erkenntnissen aus anderen wissenschaftlichen Zweigen, konnten die erhaltenen Bücher in einer eindrücklichen Qualität rekonstruiert werden.
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Übersetzungen
LiteraturÜbersichtsdarstellungen
Untersuchungen
Sammelbände
Rezeption
WeblinksWikiquote: Titus Livius – Zitate
Wikisource: Titus Livius – Quellen und Volltexte
Wikisource: Titus Livius – Quellen und Volltexte (Latein)
Anmerkungen
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