Beim Stundenweltrekord versucht ein Radsportler, in einem einstündigen Zeitfahren eine möglichst lange Strecke auf einer Radrennbahn zurückzulegen. Die Bestleistungen gehören zu den offiziellen Weltrekorden, die der Weltverband UCI verwaltet.
Der aktuelle Stundenweltrekord der Männer liegt seit dem 8. Oktober 2022 bei 56,792 Kilometern und wurde von dem Italiener Filippo Ganna im Tissot Velodrome in Grenchen aufgestellt. Der Stundenweltrekord der Frauen liegt bei 50,267 Kilometern und wurde am 13. Oktober 2023 von der Italienerin Vittoria Bussi im Velódromo Bicentenario in Aguascalientes aufgestellt.
Bereits bevor die UCI den Bewerb reglementierte, gab es 1873 eine erste dokumentierte Streckenmessung (14,4 oder 14,5 Meilen, etwa 23,331 km) einer einstündigen Schnellfahrt des Briten James Moore in England auf einem Hochrad. Bis 1888 (zuletzt 33,913 km) fuhren acht Männer, sieben Briten und ein Franzose, durchwegs in England insgesamt acht Prä-UCI-Stundenrekorde.[2]
Streit um die Definition des Rennrades
In den 1980er und 1990er Jahren wurden Rekordversuche mehr und mehr mit speziell für diesen Zweck konstruierten Rädern gefahren. 1985 überbot beispielsweise der Italiener Francesco Moser den Weltrekord von Merckx mit einem übergroßen Hinterrad, und 1993 fuhr der Schotte Graeme Obree mit einem speziellen Lenker und einer von ihm entwickelten Körperposition – mit fast durchgestrecktem Ellbogen ähnlich wie Superman. Der Engländer Chris Boardman legte 1996 mit einer extremen Sitzposition, bei der er mit ausgestreckten Armen fuhr, eine Distanz von 56,375 km zurück. Mit einem „normalen“ Rennrad konnte er den Stundenweltrekord von Eddy Merckx nur um zehn Meter überbieten.
Zwischen 1996 und 2000 erließ der Radsportweltverband Union Cycliste Internationale (UCI) mit dem Lugano Charter Beschränkungen für die Konstruktion von Fahrrädern.[3] Stundenweltrekorde sollten demnach nur noch mit herkömmlichen Rennrädern gefahren werden, die weitestgehend der technischen Ausstattung des 1972 von dem Belgier Eddy Merckx benutzten Rennrades mit klassischer Diamantrahmenform und Bügellenker entsprechen.[4] Die zwischen 1984 und 1996 erzielten Stundenweltrekorde mit aerodynamisch ausgefeilten Rennrädern und Sitzpositionen, die nach dem neuen Reglement nicht mehr zugelassen waren, wurden nur noch als „Beste Stundenleistungen“ (best human effort bzw. best hour performance) geführt. Damit wurden einerseits einheitliche Wettbewerbsbedingungen geschaffen, andererseits wurde der Stundenweltrekord von der technischen Entwicklung abgehängt, da Innovationen wie Zeitfahrlenker und Scheibenräder verboten blieben, während sie im Zeitfahren auf Straße und Bahn zulässig waren.
Mit Wirkung vom 15. Mai 2014 wurden die Beschränkungen für das Rennrad auf den Stand von 1972 vollständig aufgehoben. Nunmehr muss das Rennrad nur den allgemeinen Regeln der UCI entsprechen, womit beispielsweise wieder Zeitfahrlenker zulässig sind.[4] Der erste Stundenweltrekord unter diesen neuen Bedingungen wurde am 18. September 2014 von dem Deutschen Jens Voigt im schweizerischen Grenchen aufgestellt. Die bis 1996 erzielten Rekorde werden nunmehr unter dem Titel Lugano Charter in der Rekordliste geführt, wurden aber mittlerweile von den offiziellen Weltrekorden übertroffen.
Übersetzung
Die für einen Stundenweltrekord notwendige hohe Geschwindigkeit erfordert sehr hohe Übersetzungsverhältnisse. Die Fahrer müssen in der Lage sein, diese mit einer relativ hohen Trittfrequenz zu treten. Die meisten Stundenweltrekorde wurden mit etwa 105/min gefahren.[5]
1994 fuhr Tony Rominger den (später zur Weltbestleistung erklärten) Stundenweltrekord mit einer 60/14-Übersetzung und 103/min.[6] 2014 wählte Voigt eine Übersetzung von 54/14,[7] 2015 Wiggins von 58/14.[8] Victor Campenaerts wählte für seinen Rekordversuch eine Übersetzung von 60/14,[9] nach Tests mit 59/14, 60/14, 61/14 und 63/15.[10]
Regularien
Die Bestimmungen für Weltrekorde im Bahnradsport werden im Abschnitt 3.5 der UCI-Regularien festgelegt,[11] Artikel 3.5.026ff bezieht sich speziell auf den Stundenrekord. Beim Stundenrekord befindet sich nur ein Rennfahrer alleine auf der Bahn. Der Start erfolgt aus dem Stand an der Verfolgerlinie, wo auch die Zeitnehmung erfolgt. Nach Vollendung der Stunde führt der Fahrer die Runde noch zu Ende. Aus Zahl der Runden und den Durchgangszeiten am Beginn und Ende der letzten Runde wird die in einer Stunde zurückgelegte Entfernung errechnet. Die so errechnete Distanz wird auf den nächsten vollen Meter abgerundet.
Weltrekorde werden in der Elite bei Frauen und Männern anerkannt, nicht jedoch im Juniorenbereich. Im Bahn-Paracycling werden Weltrekorde analog zum Bahnradsport anerkannt (Abschnitt 16.9 der UCI-Regularien[12]), aber nur in den Leistungsklassen B und C1 bis C5, d. h. für Tandems und Fahrräder, und nicht auf Dreirädern und Handbikes.
Darüber hinaus werden Weltbestleistungen im Dernyrennen (Artikel 3.5.034) sowie bei den Masters in Altersstufen von jeweils fünf Jahren festgehalten.
Im Paracycling werden Stundenweltrekorde erst seit einer Regeländerung Anfang 2016 offiziell anerkannt.[16] Einige der unten genannten Rekorde fanden daher erst nachträglich Anerkennung.
Bei den Männern bestehen zurzeit folgende Weltrekorde:[17]
Bei den Masters (Senioren) erkennt die UCI Weltbestleistungen in den Altersklassen 30–34, 35–39, 40–44 usf. an. Bemerkenswerterweise wird eine Weltbestleistung auch dann anerkannt, wenn sie in einer höheren Altersklasse überboten wurde. Älteste Rekordinhaber sind Robert Marchand in der Klasse 105+ sowie die Amerikanerin Patricia Baker in der Klasse 80–84.[19][20]
Im Dernyrennen werden die Weltbestleistungen bei den Männern durch den Niederländer Maas van Beek mit 66,639 km und bei den Frauen durch die Australierin Adelia Neethling mit 52,406 km gehalten.
Liegeräder
Außerhalb der UCI werden Stundenweltrekorde auch für andere von Muskelkraft betriebene Fahrzeuge gepflegt, deren Rekorde deutlich über dem mit klassischem Rennrad liegen.
Die Französin Barbara Buatois fuhr mit einem vollverkleideten Liegerad am 19. Juli 2009 im US-amerikanischen Romeo eine Strecke von 84,02 km, womit sie als erste Frau eine Strecke von mehr als 80 km in einer Stunde mit einem Liegerad zurücklegte. Den aktuellen Stundenweltrekord der Männer hält der Schweizer Francesco Russo; er fuhr am 26. Juni 2016 im deutschen Klettwitz 92,43 km.[21] Die in Europa gefahrenen Stundenweltrekorde auf vollverkleideten Muskelkraftfahrzeugen werden von der World Human Powered Vehicle Association (WHPVA) anerkannt. Rekorde, die auf dem nordamerikanischen Kontinent gefahren werden, werden von der International Human Powered Vehicle Association (IHPVA) anerkannt.
Folgende Rekorde wurden nach dem IHPVA-Reglement, also mit Liegerädern erbracht:[22]