Nach dem Deutsch-Französischen Krieg war Elsaß-Lothringen als Reichsland direkt dem Reich zugeordnet und verfügte über keine eigene Staatlichkeit. Erst durch kaiserlichen Erlass vom 29. Oktober 1874[1] wurde eine Volksvertretung des Reichslandes eingerichtet, der Landesausschuss.
Die Mitglieder des Landesausschusses wurden nicht vom Volk gewählt, sondern von den Bezirkstagen benannt. Die drei Bezirkstage für Lothringen, Oberelsass und Unterelsass bestimmten jeweils zehn Mitglieder.
1879 wurde der Landesausschuss erweitert. Die nun 58 Mitglieder wurden von den Bezirkstagen (Lothringen 11, Oberelsass 10, Unterelsass 13) den kreisfreien Städten (jeweils 1 Mitglied aus Straßburg, Mülhausen, Metz und Colmar) und den Landkreisen (20 Mitglieder) indirekt gewählt.[2]
Der Landesausschuss hatte zunächst nur beratende Funktion. 1877 erhielt der Landesausschuss legislative Funktion und ein Haushaltsrecht. Ab 1879 erhielt der Landesausschuss ein Gesetzesinitiativrecht. Seine Beschlüsse bedurften aber der Zustimmung des Bundesrats.
Rechtsgrundlage und Aufbau
Mit der Verfassung des Reichslandes Elsaß-Lothringen vom 31. Mai 1911[3] wurde der Landesausschuss durch einen direkt gewählten Landtag ersetzt.
Erste Kammer
Die Einführung einer Ersten Kammer wurde im Reichsland parteiübergreifend kritisiert. Während Erste Kammern in den anderen Teilen des Reiches historische Gründe hatten, bestand im Reichsland keine über eine Erste Kammer einzubindende Adelsschicht. So war die Erste Kammer ein reines Honoratiorenparlament. Kritisiert wurden insbesondere die Ernennungsrechte des Kaisers.[4]
Die zweite Kammer bestand aus 60 Abgeordneten, die nach dem Grundsatz der Mehrheitswahl in 60 Wahlkreisen für eine Dauer der Wahlperiode von drei Jahren gewählt wurden. Sie wurde in Abgrenzung zur ersten Kammer, die aus Honoratioren bestand, auch „Volksparlament“ genannt. Mindestalter für die Wählbarkeit waren 25 Jahre. Das aktive Wahlrecht hatten Bürger ab 25 Jahre. Die Modalitäten für die Wahlkreisgrenzen wurden durch eine Verordnung vom 3. Juli 1911 geregelt.[7]
Die ersten und einzigen Landtagswahlen zur 2. Kammer fanden am 22. Oktober 1911 statt (am 29. Oktober 1911 wurde ein einzelner Sitz in einer Nachwahl bestimmt).
Das Wahlverhalten wurde sehr stark von der Nationalität bestimmt. In Lothringen fielen die 8 Wahlkreise westlich der Sprachgrenze mit hohen Mehrheiten an den französischsprachigen Lothringer Block. Die deutschen Parteien verzichteten hier auf Kandidaturen. Ausnahme war die SPD, die jedoch hier nur Splitterpartei war. Auf der deutschsprachigen Seite gingen die Mandate überwiegend an das Zentrum (8 Mandate) und die Liberalen (4 Mandate). Auch als Ausgleich dafür, dass die deutschen Kandidaten in den französischsprachigen Landesteilen durch das Mehrheitswahlrecht keine Möglichkeit hatten, ins Parlament zu kommen, finden sich unter den Mitgliedern der ersten Kammer mit Albert Grégoire und Johann Josef Rech zwei vom Kaiser ernannte Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe.[8]
Wahlkreis Straßburg I (Kanton Nord westlich der Ill, ohne den westlich des Straßenzugs Blauwolkengasse-Meisengasse-An den Gewerbslauben gelegenen Teil, der westlich der Ill gelegene Teil des Kantons Ost und der östlich der Straße Alter Fischmarkt gelegene Teil des Kantons Süd)
Wahlkreis Straßburg III (Kanton Süd ohne den östlich der Straße Alter Fischmarkt gelegenen Teil und der südlich des Straßenzugs Weißturmstraße-Weißturmring-Königshofener Straße gelegene Teil des Kantons West)
Wahlkreis Straßburg IV (Kanton West ohne den südlich des Straßenzugs Weißturmstraße-Weißturmring-Königshofener Straße gelegenen Teil sowie der westlich des Straßenzugs Blauwolkengasse-Meisengasse-An den Gewerbslauben gelegenen Teil des Kantons Nord)
Wahlkreis Straßburg VI (die außerhalb der Umwallung gelegenen Teile der Kantone Straßburg Nord (Ruprechtsau) und Straßburg West (Königshofen, Kronenburg, Grüneberg))
Wahlkreis Schiltigheim (Kanton Schiltigheim ohne die Gemeinden Achenheim, Breuschwickersheim, Hangenbieten, Ittenheim, Kolbsheim, Lampertheim, Mundolsheim, Oberschäffolsheim, Reichstett und Suffelweyersheim)
Wahlkreis Truchtersheim-Hochfelden (Kanton Truchtersheim und Kanton Hochfelden, sowie die Gemeinden Achenheim, Breuschwickersheim, Hangenbieten, Ittenheim, Kolbsheim und Oberschäffolsheim vom Kanton Schiltigheim)
Wahlkreis Erstein-Benfeld (Kanton Erstein ohne die Gemeinde Hindisheim, Kanton Benfeld, sowie die Gemeinden Walf und Zellweiler vom Kanton Oberehnheim)
Wahlkreis Geispolsheim-Oberehnheim (Kanton Geispolsheim, Kanton Oberehnheim ohne die Gemeinden Walf und Zellweiler und die Gemeinde Hindisheim vom Kanton Erstein)
Wahlkreis Metz I (Stadtkanton Metz I (mit Devant-les-Ponts), Sektion III vom Stadtkanton Metz III sowie der nördlich des Straßenzugs Judenstraße, Heiligkreuzplatz, Trinitarierstraße, Schmiedeplatz, Ecke Marchantstraße-Paixhannsstraße gelegene Teil vom Stadtkanton Metz II)
Wahlkreis Metz II (Stadtkanton Metz II ohne den nördlich des Straßenzugs Judenstraße, Heiligkreuzplatz, Trinitarierstraße, Schmiedeplatz, Ecke Marchandstraße–Paixhannsstraße gelegenen Teil (mit Plantières-Queuleu) sowie Sektion IV vom Stadtkanton Metz III)
Wahlkreis Vigy-Rombach (Kanton Vigy sowie Kanton Metz-Land ohne die Gemeinden Amanweiler, Augny, Ban-St. Martin, Bronvaux, Fêves, Longeville, Lorry, Maxe, Montigny, Moulins bei Metz, Norroy-le-Veneur, Plesnois, Plappeville, Sablon, St. Privat, Saulny, Scy, Semécourt und Woippy)
Wahlkreis Bolchen-Falkenberg (Kanton Bolchen ohne die Gemeinden Bettingen, Gelmingen, Girlingen, Hallingen, Kuhmen, Mengen, Pieblingen, Teterchen, Valmünster und Welwingen und Kanton Falkenberg)
Wahlkreis Busendorf-Teterchen (Kanton Busendorf und die Gemeinden Bettingen, Gelmingen, Girlingen, Hallingen, Kuhmen, Mengen, Pieblingen, Teterchen, Valmünster und Welwingen vom Kanton Bolchen)
Wahlkreis Château-Salins-Delme-Vic (Kantone Château-Salins und Delme sowie die Gemeinden Geistkirch, Klein Bessingen, Lezey, Marsal, Moyenvic, Vic und Xanrey vom Kanton Vic)
Wahlkreis Albesdorf-Dieuze (Kantone Albesdorf und Dieuze sowie Kanton Vic ohne die Gemeinden Geistkirch, Klein Bessingen, Lezey, Marsal, Moyenvic, Vic und Xanrey)
Wahlkreis Diedenhofen-Großhettingen (Kanton Diedenhofen und die Gemeinden Entringen, Escheringen, Garsch, Groß Hettingen, Kanfen, Oetringen, Suftgen und Wollmeringen vom Kanton Kattenhofen)
Wahlkreis Kattenhofen-Sierck-Metzerwiese (Kanton Kattenhofen ohne die Gemeinden Entringen, Escheringen, Garsch, Groß Hettingen, Kanfen, Oetringen, Suftgen und Wollmeringen sowie Kantone Sierck und Metzerwiese)
Wahlkreis Bitsch-Rohrbach-Wolmünster (Kantone Bitsch und Wolmünster sowie Kanton Rohrbach ohne die Gemeinden Achen, Groß Rederchingen und Kalhausen)
60
Wahlkreise
Gemäß Wahlgesetz[15] wurden je Landkreis eine festgelegte Zahl von Ein-Personen-Wahlkreisen so durch kaiserliche Verordnung bestimmt, dass die Bevölkerung des Verwaltungskreises möglichst gleichmäßig auf die einzelnen Wahlkreise verteilt wird und die Wahlkreise örtlich zusammenhängen. Auf die Landkreise entfielen folgende Wahlkreise:
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs bestanden bei der deutsch-konservativen Reichsleitung Zweifel an der Loyalität der Bewohner des Reichslandes zum Deutschen Reich. Dies galt auch für eine Reihe von Abgeordneten des Landtages. Die militärische Führung in Elsaß-Lothringen fürchtete eine kritische Debatte des Krieges. Anstelle der diskutierten Auflösung des Landtags wurde beschlossen, dass der Landtag zwar tagen durfte, um den Landeshaushalt und anstehende Gesetze zu beschließen, die Beschlussfassung jedoch ohne politische Debatte zu erfolgen hatte. Unter diesen Voraussetzungen erfolgte die 1915er Session des Landtags vom 8. bis 15. April 1915. Im Folgejahr setzten die Abgeordneten durch, dass zumindest in nichtöffentlicher Sitzung der Budgetkommission eine offene Debatte erfolgen durfte. Im Landtag erfolgte sowohl in der 1916er Session vom 26. April bis 26. Mai 1916 als auch in der des Jahres 1917 (5. Juni bis 12. Juli 1917) und in der letzten regulären Session vom 12. bis 30. April 1918 keine Debatte mehr.[16]
1918/19
Am 11. November 1918 erklärte sich der Landtag Elsaß-Lothringens zum Nationalrat und damit zur alleinigen Autorität des Reichslandes. Man rief einen Tag später ein souveränes Elsaß-Lothringen aus und übernahm damit alle Aufgaben des Ministeriums und des Reichsstatthalters. Diese Eigenständigkeit wurde jedoch von der französischen Besatzungsmacht nicht anerkannt. Am 6. Dezember 1918 sprach sich der Landtag für den Anschluss an Frankreich aus. Das Reichsland Elsaß-Lothringen und mit ihm der Landtag wurde am 17. Oktober 1919 aufgelöst und fortan von einer Generaldirektion in Paris verwaltet.
Gebäude
Das Landesausschuss-Gebäude wurde nach einem 1886 durchgeführten Architektenwettbewerb von 1888 bis 1892 nach einem überarbeiteten Wettbewerbsentwurf der Architekten August Hartel und Skjøld Neckelmann erbaut; da Hartel bereits 1890 starb und Neckelmann als Haupt-Entwurfsurheber galt, nennen auch viele zeitgenössische Quellen nur Neckelmann.[17] Die Architektur des Gebäudes lässt sich der Neorenaissance zuordnen, zeitgenössisch wurde sie auch als „in den Formen einer edlen Spätrenaissance“ charakterisiert.[17] Aus heutiger Sicht lassen sich aber auch Tendenzen zum Klassizismus bzw. Neoklassizismus erkennen. Das Haus steht in städtebaulichem Zusammenhang mit anderen die deutsche Herrschaft repräsentierenden Bauten am damaligen Kaiserplatz. Während des Ersten Weltkriegs war im Landesausschuss-Gebäude ein Lazarett untergebracht[18], später das Konservatorium der Stadt Straßburg. Das nach Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg teilweise verändert instandgesetzte Gebäude ist heute der Sitz des Théâtre national de Strasbourg.
Statistisches Landesamt für Elsass-Lothringen: Die Landtagswahlen von 1911 in Elsass-Lothringen. Sondernummer der Nachrichten des Statistischen Landesamts für Elsass-Lothringen. Druckerei der Straßburger Neuesten Nachrichten AG, Straßburg 1911, S. 5–37.
Hermann Hiery: Wahlen und Wahlverhalten im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871–1914. In: Ara und Kolb: Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen – Elsaß-Lothringen / Trient-Triest. 1998
Regierung und Landtag von Elsaß-Lothringen 1911–1916. Biographisch-statistisches Handbuch. Mühlhausen 1911
Verhandlungen der Zweiten Kammer des Landtags für Elsaß-Lothringen. (12 Bände), Straßburger Druckerei und Verlagsanstalt, vormals R. Schultz u. Comp., 1912–1917
↑Sophie Charlotte Preibusch: Verfassungsentwicklungen im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871-1918: Integration durch Verfassungsrecht?, 2010, ISBN 3-8305-2047-6, Seite 417 ff., online
↑Ernest Hamburger: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands, 1968, ISBN 3-16-829292-3, Seite 392 Online
↑Fritz Bronner: Die Verfassungsbestrebungen des Landesausschusses für Elsaß-Lothringen 1875-1911, 1926, Seite 142–143
↑Verordnung über die Einteilung der Landtagswahlkreise für Elsaß-Lothringen vom 3. Juli 1911 (Reichsgesetzblatt S. 267)
↑Roth, François: Le personnel politique de la Lorraine pendant l'annexion à l'empire Allemand 1871-1918. De la France vers l'Allemagne - De l'Allemagne vers la France. In: Themenportal Europäische Geschichte (2007), online
↑Regierung und Landtag von Elsaß-Lothringen 1911–1916. Biographisch-statistisches Handbuch. Mühlhausen 1911