In seinem Geburtsort konnte Gall die Schule kriegsbedingt nur unregelmäßig besuchen; 1944 floh er mit seiner Familie über Bochum und Stuttgart nach München. Sein Vater, Generalleutnant Franz Gall, fiel Ende 1944 in Italien. In Niederbayern im Bayerischen Wald beendete Lothar Gall die vierte Klasse und besuchte anschließend neun Jahre lang das Internat in Salem.
Im Jahre 1956 begann Gall an der Universität München Geschichte, Romanistik und Germanistik zu studieren. Ursprünglich wollte er, so wie es in seiner Familie Tradition war, Rechtswissenschaften studieren, besuchte jedoch im ersten Semester eine Vorlesung von Franz Schnabel, die sein Interesse für die Geschichtswissenschaften weckte. Ab dem dritten Semester nahm er regelmäßig an dessen Seminar teil und Schnabel wurde sein Doktorvater. 1960 wurde Gall mit einer Arbeit über den französischen Liberalen Benjamin Constantpromoviert. Schnabel vermittelte Gall daraufhin ein Stipendium am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Nach einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwischen 1962 und 1965 ging er an die Universität zu Köln, wo er sich bei Theodor Schieder 1967 in Mittelalterlicher und Neuerer Geschichte habilitierte. Die Arbeit trug den Titel Der Liberalismus als regierende Partei und behandelte das Großherzogtum Baden in den 1860er Jahren.
Verheiratet war Gall mit der Mezzosopranistin und Gesangsprofessorin Claudia Eder.[1]
Lothar Gall starb im Juni 2024 im Alter von 87 Jahren.[2]
Werke
Zu den Schwerpunkten von Galls Forschungen zählten die Geschichte des europäischen Liberalismus, Nation und Nationalstaat in Europa, die Sozialgeschichte des Bürgertums, die europäische Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte des Unternehmers Friedrich Krupp sowie die Wissenskultur und der gesellschaftliche Wandel.
In der Öffentlichkeit hatte sich Gall vor allem den Ruf eines brillanten Experten auf den Gebieten der Bismarck-Forschung und der deutschen Sozial- bzw. Wirtschaftsgeschichte erworben. Sein 1980 erschienenes Werk Bismarck. Der weiße Revolutionär gilt als erste Bismarck-Biographie modernen Zuschnitts und verkaufte sich allein auf Deutsch über 200.000 Mal und wurde in vier Sprachen übersetzt.[3] Das 1987 begonnene, die bürgerlichen Lebensverhältnisse untersuchende Forschungsprogramm „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“ mündete u. a. im Werk Bürgertum in Deutschland (1989). 1998 kuratierte Gall die Jubiläumsausstellung zur Revolution von 1848/49: Aufbruch zur Freiheit. Eine weitere wichtige Veröffentlichung war Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums (2000); außerdem gehörte Gall zu den Herausgebern der Handbuchreihen Oldenbourg Grundriss der Geschichte und Enzyklopädie deutscher Geschichte.
Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Bd. 30, ISSN0537-7919). Steiner, Wiesbaden 1963 (Teilweise zugleich: München, Universität, Dissertation).
Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Bd. 47). Steiner, Wiesbaden 1968 (Zugleich: Köln, Universität, Habilitations-Schrift).
Bismarck. Der weiße Revolutionär. Propyläen-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 1980, ISBN 3-549-07397-6 (mehrere Auflagen; auch in italienischer, französischer, englischer und japanischer Sprache).
mit Karl-Heinz Jürgens: Bismarck. Lebensbilder. Lübbe, Bergisch Gladbach 1990, ISBN 3-7857-0569-7.
Bürgertum in Deutschland. Siedler, Berlin 1989, ISBN 3-88680-259-0 (in italienischer Sprache: Borghesia in Germania. Traduzione di Amelia Valtolina. Rizzoli, Mailand 1992, ISBN 88-17-33358-1). – dargestellt am Beispiel der südwestdeutschen Familie Bassermann
Bismarck. Ein Lebensbild. Lübbe, Bergisch Gladbach 1991, ISBN 3-7857-0599-9.
„Der hiesigen Stadt zu einer wahren Zierde und deren Bürgerschaft nützlich“. Städel und sein „Kunst-Institut“. Städelscher Museums-Verein, Frankfurt am Main 1991.
Die Germania als Symbol nationaler Identität im 19. und 20. Jahrhundert. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften Göttingen, I. Philologisch-Historische Klasse 1993, S. 35–88.
S. 1–135: Die Deutsche Bank von ihrer Gründung bis zum Ersten Weltkrieg 1870–1914.
mit Ralf Roth: 1848/49. Die Eisenbahn und die Revolution. Deutsche Bahn AG, Berlin 1999.
Otto von Bismarck und Wilhelm II. Repräsentanten eines Epochenwechsels? (= Friedrichsruher Beiträge. Bd. 4). Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh 1999, ISBN 3-933418-03-8.
Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums. Siedler, Berlin 2000, ISBN 3-88680-583-2.
Der Bankier Hermann Josef Abs. Eine Biographie. Beck, München 2004, ISBN 3-406-52195-9.
Otto von Bismarck – Bild und Image (= Friedrichsruher Beiträge. Bd. 27). Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh 2006, ISBN 3-933418-30-5.
Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945 (= Neue wissenschaftliche Bibliothek. Bd. 42, ISSN0548-3018). Kiepenheuer & Witsch, Köln u. a. 1971.
FFM 1200. Traditionen und Perspektiven einer Stadt. Thorbecke, Sigmaringen 1994, ISBN 3-7995-1203-9 (Ausstellungskatalog).
mit Manfred Pohl: Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Beck, München 1999, ISBN 3-406-45334-1.
Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung. Siedler, Berlin 2002, ISBN 978-3-88680-742-0.
Literatur
Karin Hausen: Geschichte als patrilineare Konstruktion und historiographisches Identifikationsangebot. Ein Kommentar zu Lothar Gall, Das Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989. In: L'Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft. 8. Jg., 1997, Heft 1, ISSN1016-362X, S. 109–131.
Lothar Gall. „Aber das sehen Sie mir nach, wenn ich die Rolle des Historikers und die des Staatsanwalts auch heute noch als die am stärksten auseinanderliegenden ansehe“. In: Rüdiger Hohls, Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart u. a. 2000, ISBN 3-421-05341-3, S. 300–318 (Interview, online).
Florentine Fritzen: In Urlaub geht er nicht, weder körperlich noch geistig. Frankfurter Freiheit als Gegenstand und Haltung. Der Historiker Lothar Gall wird achtzig Jahre alt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Dezember 2016, Nr. 282, S. 11.
Helmut Neuhaus: Lothar Gall zum 70. Geburtstag. In: Akademie aktuell – Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Heft 1, Nr. 20, 2007, S. 52–53 (online).
Stephan M. Hübner: Lothar Gall: 70 Jahre (pdf; 3,0 MB). In: Goethe-Universität Frankfurt am Main: Uni-Report, Bd. 40 (2007), 1, 31. Januar 2007, S. 19.
↑Sven Felix Kellerhoff, Gegenentwürfe zur eher links gewirkten Sozialgeschichte: Der Liberale, der zum großen Biografen des „weißen Revolutionärs“ Bismarck wurde. Ein Nachruf auf den Historiker Lothar Gail, in: DIE WELT vom 24 Juni 2024, S. 16