Bekannt wurde die Schrift im Jahr 1878 durch einen Fund auf Kreta.
Die Bezeichnung „Linearschrift B“ wurde von Sir Arthur Evans, dem Ausgräber von Knossos geprägt, und bezeichnet das Aussehen der mit einzelnen Linien in Tontäfelchen geritzten Schriftzeichen. Wegen der engen Verwandtschaft mit der Linearschrift A wurden aufgefundene Tontäfelchen und ähnliche zunächst für minoisch gehalten.
Funde von Tontäfelchen (die Sigel jeweils in Klammern) stammen zudem hauptsächlich noch aus den Palastarchiven von Pylos (PY), die von Carl Blegen aufgedeckt wurden. Weitere Täfelchen, die auf eine Palastverwaltung hinweisen, kommen aus den Fundstätten von Iklaina in Messenien (IK),[4]Agios Vasilios in Lakonien (HV),[5]Mykene (MY) und Tiryns (TI) in der Argolis, Theben (TH) in Böotien, Volos (VOL) in Thessalien,[6] sowie Chania (KH) auf Kreta. Zudem wurden Vasen mit aufgemalten Schriftzeichen an mehreren Orten gefunden, so u. a. in Tiryns, Midea, Mykene, Eleusis, Kreusis, Orchomenos und im thessalischen Dimini auf dem Festland sowie Chania, Knossos, Malia und Prinias auf Kreta.[7]
Außerhalb von Griechenland stammt bisher eine nicht gesicherte Vasenaufschrift aus Sidon (Libanon).[8] Auf der kleinen italienischen Insel Vivara im Golf von Neapel, auf der sich vor allem viele Importe aus frühmykenischer Zeit fanden, wurden sowohl Tonplomben mit einzelnen Zeichen als auch Fragmente eines Täfelchens aus Tuff mit numerischen Notizen entdeckt, das starke Ähnlichkeiten zu den palmblattförmigen Linear-B-Tontäfelchen aus Griechenland aufweisen soll.[9] Hinzu kommen aus der bronzezeitlichen Befestigung bei Bernstorf zwei im Jahr 2000 gefundene Bernsteinamulette mit je drei Zeichen einer frühen Linear-B-Schrift. Sollte die Echtheit dieses Fundes eindeutig erwiesen werden, lieferte er einen wichtigen Beleg für die Handelswege des 15. Jahrhunderts v. Chr.
Entzifferung
Die Grundlagen der Entzifferung wurden von der Altphilologin Alice Kober zwischen 1940 und ihrem frühen Tod 1950 gelegt. Aufbauend auf ihrer systematischen Vorarbeit gelang 1952 dem britischen Architekten und Sprachforscher Michael Ventris zusammen mit John Chadwick die Entzifferung. Es zeigte sich, dass die aufgefundenen Texte in einer frühen Form der griechischen Sprache (mykenisches Griechisch) abgefasst worden waren. Dies stellte eine wissenschaftliche Sensation dar, da man bis dahin angenommen hatte, es handele sich um die nicht-indogermanische Sprache der Minoer, die vorher mit Linear A geschrieben worden war. Offenbar handelt es sich bei Linear B um eine Adaption an die Sprache mykenischer Eroberer. Überdies hatte man vorher angenommen, die Mykener hätten noch nicht Griechisch gesprochen und dass Träger dieser Sprache erst in der Eisenzeit in Hellas eingewandert wären. Als die Mykener nach dem Vulkanausbruch von Thera (um 1625 v. Chr.) ihre Macht auf Kreta etablierten, hatten sie unter Verwendung einiger alteuropäischer Zeichen sowie Neuschöpfungen jedoch schon begonnen, das Linear-B-Syllabar aus Linear A zu entwickeln.[10]
Bei den Funden handelt es sich nicht um literarische Texte, sondern hauptsächlich um Notizen zu wirtschaftlichen und Verwaltungszwecken, die nicht zur dauerhaften Aufbewahrung bestimmt waren. Die Tontafeln blieben nur zufällig deshalb erhalten, weil sie in Brandkatastrophen gebrannt und dadurch für lange Zeit haltbar gemacht worden waren. Daher berichten sie nur von den wirtschaftlichen Verhältnissen und der Verwaltung in den letzten Monaten vor dem jeweiligen Brand. Einmal im Jahr wurde eine Revision durchgeführt, bei der der Inhalt aller Tontäfelchen zusammengefasst und dann sehr wahrscheinlich auf einem anderen, vergänglichen Material festgehalten wurde.
Die Schriftzeichen der Linearschriften mit ihren komplizierten Strukturen und kleinen Details sind für das Einritzen in Ton wenig geeignet. Man vermutet daher, dass hauptsächlich auf anderen, aber nicht sehr haltbaren Materialien wie Papyrus oder Pergament geschrieben wurde.
2019 wurde berichtet, dass ein Team um Jiaming Luo vom MIT die Linearschrift B allein mit maschinellem Lernen entschlüsselt hat, was möglicherweise auch neue Möglichkeiten eröffne, auch die Linearschrift A zu entschlüsseln.[11]
Silbenzeichen
-a
-e
-i
-o
-u
𐀀a
𐀁e
𐀂i
𐀃o
𐀄u
d-
𐀅da
𐀆de
𐀇di
𐀈do
𐀉du
j-
𐀊ja
𐀋je
𐀍jo
𐀎ju
k-
𐀏ka
𐀐ke
𐀑ki
𐀒ko
𐀓ku
m-
𐀔ma
𐀕me
𐀖mi
𐀗mo
𐀘mu
n-
𐀙na
𐀚ne
𐀛ni
𐀜no
𐀝nu
p-
𐀞pa
𐀟pe
𐀠pi
𐀡po
𐀢pu
q-
𐀣qa
𐀤qe
𐀥qi
𐀦qo
r-
𐀨ra
𐀩re
𐀪ri
𐀫ro
𐀬ru
s-
𐀭sa
𐀮se
𐀯si
𐀰so
𐀱su
t-
𐀲ta
𐀳te
𐀴ti
𐀵to
𐀶tu
w-
𐀷wa
𐀸we
𐀹wi
𐀺wo
z-
𐀼za
𐀽ze
𐀿zo
Einige Zeichen mit besonderen Regeln des Lesens (ai, rya, tya, dwe, twe, dwo, nwa usw.) sind in der Tabelle nicht enthalten. Ein Dutzend Silbenzeichen sind bisher noch nicht entziffert (*34, *35 usw.).
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Es mag ja alles in der Literatur belegt sein, aber nachvollziehbarer wären mit Einzelnachweisen oder Literaturhinweisene versehene Schreibregeln
Da in Linear B nur einfache Silben (entweder Vokal oder Konsonant+Vokal) geschrieben werden können, spiegelt die Orthographie die Lautgestalt schlecht wider. Ein in Linear B geschriebenes griechisches Wort hat häufig mehrere mögliche Lesarten. Die Schreibung ist dagegen ziemlich eindeutig und folgt in der Mehrzahl der Fälle den folgenden Regeln:
Vokallänge wird nicht spezifiziert: Die beiden O-Vokale in KNOSOS (klassisch Κνωσός) werden nicht unterschieden.
Diphthonge auf U (AU, EU) werden mit einem Silbenzeichen plus dem Vokal U geschrieben (LEU ist also re-u). Für AU am Wortanfang gibt es ein spezielles Silbenzeichen.
In Diphthongen auf I fällt das I aus (aus PHAI wird also pa; allerdings findet man gerade für das Beispielwort PHAISTOS auch irregulär die Schreibung pa-i-to 𐀞𐀂𐀵). Am Wortanfang kann AI wahlweise mit a oder einem speziellen Zeichen ai geschrieben werden.
Folgen auf U oder I weitere Vokale, dann fügt man einen Gleitlaut w bzw. j ein. Das gilt auch bei Diphthongen aus U oder I, obwohl das I bei letzteren gar nicht geschrieben wird (LAIO schreibt man als ra-jo, KUA ergibt ku-wa).
Doppelkonsonanten (Geminale) werden als einfache Konsonanten geschrieben (SSO wird zu so)
Konsonantencluster, deren erster Bestandteil ein Plosiv ist, werden in zwei Silben mit gleichem Vokal aufgelöst (KNO ergibt ko-no).
Cluster aus Kontinuant+Plosiv verkürzt man dagegen zu einer einfachen Silbe, indem man den Kontinuanten weglässt (STO ergibt to).
In Clustern aus zwei Kontinuanten werden grundsätzlich beide Konsonanten geschrieben (MNI wird zu mi-ni). Dazu gibt es jedoch Ausnahmen, in denen der erste Konsonant in der Schreibung ausfällt. Das ist systematisch immer der Fall, wenn der zweite Konsonant S ist, aber es gibt auch Fälle, die sich nicht mit einer einfachen Regel vorhersagen lassen.
Die Unterscheidung zwischen stimmhaften, stimmlosen und behauchten Verschlusslauten kann in der Schrift in der Regel nicht wiedergegeben werden (KA/KHA/GA werden mit ka geschrieben und PA/PHA/BA mit pa). Nur für den stimmhaften Dental D gibt es eine eigene Reihe von Silbenzeichen, so dass man DA mit da und TA/THA mit ta schreibt.
Zwischen L und R wird nicht unterschieden.
Konsonanten am Wortende fallen normalerweise aus. In den eher seltenen Fällen, dass ein Wort auf -qs, -ps oder -ks endet, wird der Plosiv mit dem Vokal der vorletzten Silbe geschrieben.
Ernst Doblhofer: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen (= Reclam Taschenbuch. Nr.21702). Philipp Reclam jun., Stuttgart 2008, ISBN 978-3-15-021702-3, Streitwagen und Becher. Die Entzifferung der kretisch-mykenischen Linearschrift B, S.251–295.
Werner Ekschmitt: Die Kontroverse um Linear B. Beck, München 1969.
Margalit Fox: The riddle of the labyrinth. The quest to crack ancient code and the uncovering of a lost civilization. Profile Books, London 2013, ISBN 978-1-78125-132-4. (Über das Buch)
George A. Miller: Wörter. Streifzüge durch die Psycholinguistik. Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übersetzt von Joachim Grabowski und Christiane Fellbaum. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1993; Lizenzausgabe: Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1995; 2. Auflage ebenda 1996, ISBN 3-86150-115-5, S. 68–71.
Simon Singh: The code book. The science of secrecy from ancient Egypt to quantum cryptography. Fourth Estate, London 1999, ISBN 1-85702-879-1. Deutsch: Geheime Botschaften. Die Kunst der Verschlüsselung von der Antike bis in die Zeiten des Internet. 7. Auflage. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2006 (= dtv. Band 33071), ISBN 978-3-423-33071-8.
Wissenschaftliche Literatur
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John Chadwick: Linear B and related scripts. 3. Druck. British Museum Press, London 1995, ISBN 0-7141-8068-8 (Reading the past).
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Sigrid Deger-Jalkotzy (Hrsg.): Die neuen Linear-B-Texte aus Theben. Ihr Aufschlusswert für die mykenische Sprache und Kultur. Akten des internationalen Forschungskolloquiums an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 5. – 6. Dezember 2002. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2006, ISBN 3-7001-3640-4 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Denkschriften, Philosophisch-Historische Klasse 338, ISSN0029-8824), (Veröffentlichungen der Mykenischen Kommission 23), (Mykenische Studien 19), Inhalt
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Emmett Leslie Bennett, John Chadwick, Michael Ventris: The Knossos Tablets. A revised transliteration of all the texts in Mycenaean Greek recoverable from Evans’ excavations of 1900–1904 based on independent examination. Second edition with corrections and additions by John Chadwick with the assistance of Fred W. Householder Jr. London 1959 (Bulletin of the Institute of Classical Studies, Supplement no. 7) – Rez. von: Joshua Whatmough. In: Classical Philology, 57, 1962, S. 244–246.
Michael Ventris: Documents in Mycenaean Greek. Second edition by John Chadwick. Cambridge University Press, London 1973, ISBN 0-521-08558-6.
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↑Cynthia W. Shelmerdine: Iklaina tablet IK X. In: P. Carlier et al.: Études mycéniennes 2010. Actes du XIIIe colloque international sur les textes égéens. Biblioteca di «Pasiphae» X, Pisa/Rom 2012, ISBN 978-88-6227-473-9, S. 75–78.
↑V. Aravantinos, A. Vasilogamvrou: The first Linear B documents from Ayios Vasileios (Laconia)''. In: P. Carlier et al.: Études mycéniennes 2010. Actes du XIIIe colloque international sur les textes égéens. Biblioteca di «Pasiphae» X, Pisa/Rom 2012, ISBN 978-88-6227-473-9, S. 41–54.
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↑Maurizio Del Freo: Rapport 2006–2010 sur les textes en écriture hiéroglyphique crétoise, en linéaire A et en linéaire B. In: P. Carlier et al.: Études mycéniennes 2010. Actes du XIIIe colloque international sur les textes égéens; Biblioteca di «Pasiphae» X, Pisa/Rom 2012, ISBN 978-88-6227-473-9, S. 21
↑Nancy H. Demand: The Mediterranean Context of Early Greek History. John Wiley & Sons, 2011, S. 145 (mit weiteren Literaturangaben).
↑Harald Haarmann: Auf den Spuren der Indoeuropäer. Von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen. Beck, München 2016, S. 324 f.