Jörg Jarnut legte 1962 das Abitur am Gymnasium Bonn ab. Er studierte von 1962 bis 1967 Geschichte und Germanistik an den Universitäten Bonn, Caen und Perugia. Er legte 1967 das Staatsexamen ab. Jarnut war 1968 Praktikant am Goethe-Institut in München. Er wurde 1970 an der Universität Bonn bei Eugen Ewig mit der Arbeit Prosopographische und sozialgeschichtliche Studien zum Langobardenreich in Italien (568–774)promoviert. Die Arbeit wurde von der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Universität Bonn mit einem Preis ausgezeichnet. Von 1970 bis 1973 absolvierte er einen Italienaufenthalt. Er war 1973/74 wissenschaftlicher Angestellter der UB Bonn und von 1974/75 wissenschaftlicher Angestellter der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. in Bonn. Von 1975 bis 1983 war er wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Geschichte der Abteilung Aachen der PH Rheinland. Im Jahr 1977 folgte mit der von Ewig betreuten Arbeit über die Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Bergamos die Habilitation an der Universität Bonn.[1] Im Jahr 1980 wurde er ebendort außerplanmäßiger Professor.
Er wurde 1983 an die Universität Paderborn berufen. Einen Ruf an die Universität/GHS Wuppertal lehnte er zuvor ab. Von 1983 bis 2007 war Jarnut Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Paderborn. Von 1986 bis 1987 war er Dekan des Fachbereichs I. An der Universität Paderborn war er von 2003 bis 2007 Prorektor für Planung und Finanzen. Von 1989 bis 1995 war er Vizepräsident des Mediävistenverbandes. Jarnut war einer der Direktoren des im Jahre 2000 gegründeten Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachlebens (IEMAN) an der Universität Paderborn. Er war ordentliches Mitglied in der Historischen Kommission für Westfalen (ab 1999) und korrespondierendes Mitglied der Reial Acadèmia de Bones Lletres de Barcelona. In Paderborn organisierte Jarnut jedes Semester eine gemeinsame Vortragsveranstaltung mit dem Altertumsverein Paderborn. Damit sollten aktuelle Forschungen über die mittelalterliche Vergangenheit der Stadt Paderborn einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden. Sein Lehrstuhlnachfolger in Paderborn wurde 2008 Hermann Kamp. Jarnut verstarb im Alter von 81 Jahren am 6. März 2023. Er wurde auf dem Friedhof in Bad Waldliesborn beigesetzt.[2]
Sein Arbeits- und Forschungsschwerpunkt war die europäische Geschichte des Früh- und Hochmittelalters.[3] Vor allem arbeitete er zur Geschichte der Langobarden, des hochmittelalterlichen Italiens, der Karolingerzeit und zur Ethnogenese im früheren Mittelalter. Anlässlich des 1250. Todestages von Karl Martell war Jarnut mit Ulrich Nonn und Michael Richter einer der Herausgeber eines 1994 veröffentlichten Sammelbandes, der auf eine international besetzte Tagung in Bad Homburg aus dem Jahr 1991 zurückgeht. Karls Zeit deuteten die Herausgeber im Vorwort „als eine Schlüsselepoche der fränkischen Geschichte – zwischen Dekadenz der merowingischen Königsmacht und Aufstieg der arnulfingischen Hausmeier, zwischen Verfall kirchlichen Lebens und bonifatianischer Reform, zwischen akuter Gefährdung der Grenzen und kräftigem Ausgriff über die Grenzen hinaus“.[4] Das Ergebnis der Tagung war eine Revision der bisherigen Vorstellung vom 8. Jahrhundert und vom Aufstieg der Karolinger zur alleinigen Herrschaft im Frankenreich.[5] Gemeinsam mit Matthias Becher veranstaltete Jarnut im April 2002 eine Tagung in Bonn über die Vorgänge, die vor 1250 Jahren zur Ablösung des letzten Merowingers durch König Pippin führten. Die Beiträge über den Dynastiewechsel von 751 wurden 2004 veröffentlicht.[6] Einschlägig wurde seine 1982 veröffentlichte Überblicksdarstellung über die Geschichte der Langobarden.[7] Die Darstellung wurde 1995 ins Italienische übersetzt. Grundlegend wurde auch sein 1988 gehaltener Vortrag auf der Reichenau über die Landnahme der Langobarden in Italien aus historischer Sicht, der 1993 im Band Vorträge und Forschungen erschienen ist.[8] Jarnut hat zu diesem Beitrag selbst weitere Ergänzungen beigesteuert.[9]
In Paderborn organisierte er zahlreiche Tagungen zur früh- und hochmittelalterlichen Geschichte. Eng kooperierte er mit den Paderborner Museen und der Stadtarchäologie. Die große Canossa-Ausstellung, die vom Museum in der Kaiserpfalz, dem Diözesanmuseum und dem Stadtmuseum gemeinsam 2006 durchgeführt wurde, bereitete Jarnut mit einer großen Tagung vor. Das von Jarnut mitbegründete Institut (IEMAN) organisierte regelmäßig Tagungen, deren Ergebnisse in einer eigenen Reihe des Instituts erschienen. Die erste von Jarnut und Hans-Werner Goetz ausgerichtete Tagung befasste sich mit den künftigen Aufgaben und Möglichkeiten interdisziplinärer Mittelalterforschung im 21. Jahrhundert. Die Beiträge dazu wurden 2003 veröffentlicht.[10] Anlässlich des tausendjährigen Jubiläums der Königinnenkrönung Kunigundes am 10. August 2002 veranstalteten der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, das Paderborner Institut zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens (IEMAN) und der Verein für Geschichte und Altertumskunde, Abteilung Paderborn eine Vortragsreihe. Vier Beiträge dazu wurden im fünften Band der Reihe MittelalterStudien von Jarnut mit Stefanie Dick und Matthias Wemhoff herausgegeben.[11] Inzwischen sind 33 Bände der MittelalterStudien veröffentlicht worden. Mit Wemhoff begründete er das Archäologisch-Historische-Forum als feste Tagungsreihe, die regelmäßig Archäologen und Historiker zusammenbrachte. Mit Wemhof veranstaltete er im April 2001 eine Tagung des Archäologisch-Historischen Forums in Paderborn, die aktuelle Forschungskonzepte von Erinnerung und Ritual an mittelalterlichen Grabfunde erprobte.[12]
Er plädierte dafür, das „Germanische“ als eine analytische und wissenschaftliche Kategorie der Frühmittelalterforschung abzuschaffen. Statt nach den Germanen sollte nach den jeweiligen ethnisch dominierten Gruppen (also Vandalen, Goten, Herulern) der Spätantike und des Frühmittelalters gefragt werden.[13] Jarnut war 1999 anlässlich des Bistumsjubiläums und der 1200. Wiederkehr des Treffens von Karl dem Großen und Papst Leo III. Herausgeber des ersten Bandes der dreibändigen Geschichte der Stadt Paderborn vom Mittelalter bis in die Gegenwart.[14]
Schriften (Auswahl)
Aufsatzsammlung
Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze. Festgabe zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Matthias Becher. Scriptorium, Münster 2002, ISBN 3-932610-19-9.
Monografien
Agilolfingerstudien. Untersuchung zur Geschichte einer adligen Familie im 6. und 7. Jahrhundert (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters. Band 32). Hiersemann, Stuttgart 1986, ISBN 3-7772-8613-3 (online).
Geschichte der Langobarden (= Kohlhammer-Urban-Taschenbücher. Band 339). Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1982, ISBN 3-17-007515-2 (In italienischer Sprache: Storia dei Longobardi. Traduzione di Paola Guglielmotti. Einaudi, Torino 1995, ISBN 88-06-13658-5).
Bergamo 568–1098. Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte einer lombardischen Stadt im Mittelalter (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Band 67). Steiner, Wiesbaden 1979, ISBN 3-515-02789-0 (Zugleich: Bonn, Universität, Habilitations-Schrift, 1977; in italienischer Sprache: Bergamo, 568–1098. Storia istituzionale, sociale ed economica di una città lombarda nell'alto Medioevo (= Collana di studi e fonti. Band 1). Traduzione di Gianluca Piccinini. Archivio bergamasco, Bergamo 1980).
Prosopographische und sozialgeschichtliche Studien zum Langobardenreich in Italien (568–774) (= Bonner historische Forschungen. Band 38). Röhrscheid, Bonn 1972, ISBN 3-7928-0312-7 (Zugleich: Bonn, Universität, Dissertation, 1970).
Herausgeberschaften
mit János M. Bak, Pierre Monnet und Bernd Schneidmüller: Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jahrhundert. Uses and Abuses of the Middle Ages, 19th–21 st Century. Usages and Mésusages du Moyen Age du XIXe auXXIe siècle (= MittelalterStudien. Band 21). Fink, München 2009, ISBN 978-3-7705-4701-2.
mit Matthias Wemhoff: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung. Historischer Begleitband zur Ausstellung „Canossa 1077, Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik“ (= MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens, Paderborn. Band 13). Fink, Paderborn u. a. 2006, ISBN 3-7705-4282-7.
mit Matthias Becher: Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung. Scriptorium, Münster 2004, ISBN 3-932610-34-2.
mit Matthias Wemhoff: Erinnerungskultur im Bestattungsritual. Archäologisch-historisches Forum (= MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens, Paderborn. Band 3). Fink, Paderborn u. a. 2003, ISBN 3-7705-3861-7 (online).
mit Hans-Werner Goetz: Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung (= MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens. Band 1). Fink, München 2003, ISBN 3-7705-3888-9.
mit Peter Johanek: Die Frühgeschichte der europäischen Stadt im 11. Jahrhundert (= Städteforschung. Reihe A: Darstellungen. Band 43). Böhlau, Köln u. a. 1998, ISBN 3-412-06796-2.
mit Ulrich Nonn und Michael Richter: Karl Martell in seiner Zeit (= Beihefte der Francia. Band 37). Thorbecke, Sigmaringen 1994, ISBN 3-7995-7337-2 (online).
Matthias Becher: Jörg Jarnut (1942–2023). In: Francia. Band 51, 2024, S. 451 ff.
Günter Christ (Hrsg.): Aequilibrium mediaevale. Symposion anlässlich des 65. Geburtstages von Carl August Lückerath. Schulz-Kirchner, Idstein 2003, ISBN 3-8248-0505-7, S. 150 (Lebenslauf mit Bild).
↑Vgl. etwa Jörg Jarnut: Konsumvorschriften im Früh- und Hochmittelalter. In: Trude Ehlert (Hrsg.): Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit. Vorträge eines interdisziplinären Symposions vom 6.–9. Juni 1990 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Mit einem Register von Ralf Nelles. Sigmaringen 1991, S. 119–128.
↑Vorwort. In: Jörg Jarnut, Ulrich Nonn, Michael Richter (Hrsg.): Karl Martell in seiner Zeit. Sigmaringen 1994.
↑Matthias Becher, Jörg Jarnut (Hrsg.): Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung. Münster 2004. Vgl. dazu die Besprechungen von Cordula Nolte in: Historische Zeitschrift 287, 2008, S. 164–166; Bruno Dumézil in: Revue Historique 308, 2006, S. 428–430; Martina Hartmann in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 124, 2007, S. 436–438; Konrad Wanner in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 46, 1996, S. 268–270 (online).
↑Vgl. dazu Walter Pohl: Migration und Ethnogenese der Langobarden aus Sicht der Schriftquellen. In: Jan Bemmann, Michael Schmauder (Hrsg.): Kulturwandel in Mitteleuropa. Langobarden – Awaren – Slawen. Akten der internationalen Tagung in Bonn vom 25. bis 28. Februar 2008. Bonn 2008, S. 1–12, hier: S. 1. Vgl. zur Überblicksdarstellung die Besprechungen von Marlene Polock in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 39, 1983, S. 276 (online); Wilhelm Kurze in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 65, 1985, S. 480 (online).
↑Jörg Jarnut: Die Landnahme der Langobarden in Italien aus historischer Sicht. In: Michael Müller-Wille, Reinhard Schneider (Hrsg.): Ausgewählte Probleme europäischer Landnahmen. Band 1. Sigmaringen 1993, S. 173–194 (online). Wieder abgedruckt in: Matthias Becher (Hrsg.): Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze von Jörg Jarnut. Münster 2002, S. 307–328. Vgl. zur fachlichen Einschätzung des Aufsatzes Walter Pohl: Migration und Ethnogenese der Langobarden aus Sicht der Schriftquellen. In: Jan Bemmann, Michael Schmauder (Hrsg.): Kulturwandel in Mitteleuropa. Langobarden – Awaren – Slawen. Akten der internationalen Tagung in Bonn vom 25. bis 28. Februar 2008. Bonn 2008, S. 1–12, hier: S. 9, Anm. 74.
↑Jörg Jarnut: Die Langobarden zwischen Pannonien und Italien. In: Rajko Bratož (Hrsg.): Slowenien und seine Nachbarländer zwischen Antike und karolingischer Epoche. Ljubljana 2000, S. 73–79. Wieder abgedruckt in: Matthias Becher (Hrsg.): Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze von Jörg Jarnut. Münster 2002, S. 291–297.
↑Vgl. dazu die Besprechungen von Knut Görich in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 128, 2006, S. 314–320; Jan-Dirk Müller in: Arbitrium 24, 2006, S. 156–158; Juliane Schiel in: H-Soz-Kult, 12. Juli 2004 (online).
↑Vgl. dazu die Besprechung von Boris Bigott in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15. Februar 2005] (online).
↑Vgl. dazu die Besprechung von Thomas Meier in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 6 [15. Juni 2004] (online).
↑Jörg Jarnut: Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: Walter Pohl (Hrsg.): Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters. Wien 2004, S. 107–113.
↑Vgl. die Besprechung von Rudolf Schieffer in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 56, 2000, S. 770–771 (online).