Habsburger UnterlippeAls Habsburger Unterlippe (oder Habsburger Lippe) bezeichnet man die stark ausgeprägte erbliche Überentwicklung des Unterkiefers („echte“ Progenie)[1] und Zahnfehlstellung der Klasse III, die bei den Habsburgern der Frühen Neuzeit verbreitet war. Sie bildete einen Teil des charakteristischen Habsburger Gesichtes. Mitglieder der Habsburger besaßen über Jahrhunderte die extrem ausgeprägten Unterkiefer. Gerald D. Hart schließt aus einer Durchsicht von Abbildungen der Habsburger auf Münzen und Porträts, dass diese Kieferfehlstellung mindestens von 1440 bis 1705 Teil des dominanten Familienerbguts war.[2] Die meisten paläopathologischen Untersuchungen beschränkten sich auf solche Auswertungen der Physiognomie nach künstlerischen Darstellungen, die für die Habsburger über lange Zeiträume in ungewöhnlich großer Zahl vorhanden sind. In zwei Analysen wurden Skelette auf anatomische Auffälligkeiten untersucht.[3] HintergrundÜber den Ursprung gibt es mehrere Hypothesen. Einige sahen bereits bei Rudolf von Habsburg (1218–1291) eine schwach ausgeprägte Habsburger Unterlippe, was nicht nachzuweisen ist und eine legendenhaft motivierte Behauptung sein dürfte. Nach weiteren Vermutungen stammt die stark ausgeprägte Unterlippe von Johanna von Pfirt (1300–1351), der Gattin von Albrecht II. von Österreich (1298–1358). Bildnisse, die als einigermaßen authentisch betrachtet werden können, haben sich allerdings erst ab dem 15. Jahrhundert erhalten, wobei die Meinungen auseinandergehen, bei wem die Mutation erstmals auftrat. Einige sehen sie bereits bei Albrecht II. (1391–1439) vorhanden, bei dessen zeitgenössischen Abbildungen sie allerdings – wenn überhaupt – nur vage erkennbar ist. Seine Grablege, die Basilika von Székesfehérvár, wurde 1601 von den Türken zerstört; deshalb ist ein Nachweis nicht mehr möglich. Eine weitere These führt die Unterlippe auf Cimburgis von Masowien zurück, die Gattin des Herzogs Ernst des Eisernen. Auch diese These kann nicht eindeutig belegt werden.[4] Bei deren Sohn Kaiser Friedrich III. (1415–1493) tritt die Unterlippe klar hervor, ebenso bei seiner Schwester Katharina und seinem Sohn Maximilian I. Sie verstärkte sich dann durch innerfamiliäre Eheschließungen über viele Generationen. Extrem ausgeprägt war die Progenie beim letzten spanischen Habsburgerherrscher Karl II. (1661–1700), von dessen acht Urgroßeltern sechs gebürtige Habsburger waren und die siebte eine Wittelsbacherin, deren Mutter eine Habsburgerin war. Das Merkmal, das bereits bei seinem Vater und Großvater prominent zu erkennen war, wurde so stark, dass Karl II. als entstellt galt und Schwierigkeiten hatte, zu sprechen und zu kauen. Das jahrhundertelange Weitertragen dieser Erbkrankheit innerhalb der Familie wird auf die starke dynastische Endogamie zurückgeführt, die während der Koexistenz der beiden Linien der Habsburger, der spanischen und der österreichischen, zwischen 1516 und 1700 zu sehr häufigen Eheschließungen naher Verwandter führte (siehe Ahnenverlust, Inzucht beim Menschen, Stammliste der Habsburger). Daraus hat Hans-Joachim Neumann geschlossen, dass es sich um einen autosomal-dominanten Erbgang handelte.[5][6] Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts war das Merkmal als Charakteristikum der Familie bekannt, damals in Verbindung mit einer Höckernase, wie sie bei Maximilian I. (1459–1519) zu sehen war. Bisweilen trat auch ein langes Kinn hinzu. Bei Maximilians Enkeln Karl V. und Ferdinand I., den Begründern der spanischen und der österreichischen Linie des Hauses Habsburg, war die Unterlippe bereits stark ausgeprägt. Noch am Ende des 17. Jahrhunderts bescheinigte Liselotte von der Pfalz ihrem Schwiegersohn Leopold von Lothringen, Sohn einer Habsburgerin, „ein österreichisch Maul“.[7] In der Spätzeit gesellten sich zur vorgeschobenen Unterlippe auch etwas schrägstehende Augen mit leicht herabhängenden Unterlidern (Bernhardiner-Augen), etwa bei Rudolf II., Ferdinand II. oder Philipp IV. (Spanien). Dessen Sohn, der durch extreme Progenie entstellte Karl II. (Spanien), war nicht nur körperlich, sondern auch geistig degeneriert und faktisch regierungsunfähig sowie zeugungsunfähig; als letzter spanischer Habsburger starb er im Jahr 1700. Damit endeten auch die Querheiraten zwischen beiden Linien. Bei seinen zeitgleichen Wiener Cousins Joseph I. und Karl VI. war die Unterlippe schon etwas schwächer ausgebildet, im Gegensatz zu ihrem Vater Leopold I.; doch war ihre Mutter auch keine Habsburgerin, sondern brachte als Tochter eines Pfälzer Wittelsbachers und einer hessischen Landgräfin frische Gene aus protestantischem Hochadel in die Habsburger Familie. Karl VI. ehelichte eine Prinzessin aus der Braunschweiger Linie des Welfenhauses. So fand die Mutation wohl durch Gendrift ihr Ende. Mit ihm starben 1740 auch die österreichischen Habsburger im Mannesstamm aus. Bei seiner Tochter und Erbin Maria Theresia war das Merkmal schon nicht mehr zu sehen, ebenso trat es bei dem von ihr und ihrem Mann Franz I. Stephan von Lothringen begründeten Haus Habsburg-Lothringen nicht mehr dominant auf. Nur bei vereinzelten Nachfahren (wie etwa Peter II. von Brasilien, † 1891) konnte die Progenie sich auch etliche Generationen später nochmals „durchmendeln“. Die Forschung zu diesem Thema hat eine lange Tradition und hatte ihre Hochzeit gemeinsam mit den Rassentheorien und den Vererbungslehren des ausgehenden 19. und anfangenden 20. Jahrhunderts. So schrieb Victor Haecker 1911, „[i]n allen biologischen Werken, in denen von der Vererbung beim Menschen die Rede ist“, werde „die Habsburger Unterlippe als körperliches Merkmal angeführt, welches mit besonderer Zähigkeit durch zahlreiche Generationen hindurch übertragen worden ist“.[8] Insbesondere der Rassismus in der Zeit des Nationalsozialismus bereitete den Boden für einige Publikationen zum Thema. Der Kunsthistoriker Heinz Ladendorf urteilte über Wilhelm Strohmayers 1937 erschienene umfassende Monographie Die Vererbung des Habsburger Familientypus. Eine erbphysiognomische Betrachtung auf genealogischer Grundlage, das Werk zeige sich „den neuen Anforderungen [des NS-Regimes] an die wissenschaftliche Arbeit in besonderem Maße zugänglich“ als einen der „Versuche, die Rassenkunde und Sippenkunde durch die Bildkunde zu fördern“.[9] Bilder
Literatur
Belege
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