Gotische Sprache
Die gotische Sprache ist eine germanische Sprache, die von den Goten gesprochen wurde. Sie ist die einzige in längeren Texten überlieferte Form des Ostgermanischen und dank der im 4. Jahrhundert verfassten gotischen Bibelübersetzung, der Wulfilabibel, überliefert in Abschriften des 6. Jahrhunderts wie dem Codex Argenteus, zugleich die älteste literarisch überlieferte Schriftform einer germanischen Sprache.[1] Das Gotische unterscheidet sich von west- und nordgermanischen Sprachen unter anderem durch den Erhalt der urgermanischen Endung *-z (entsprechend z. B. lateinisch -s) im Nominativ Maskulinum Singular, wo es zu -s entstimmt wurde. Dies ist beispielhaft sichtbar an den Wörtern für Tag, Gast und Sohn, nämlich gotisch dags, gasts, sunus gegenüber althochdeutsch tag, gast, sunu oder altnordisch dagr, gestr, sunr (wo sich *-z in -r gewandelt hat, siehe Rhotazismus).[2] Außerdem liefert es die einzigen Belege einiger archaischer Formen (siehe Gotische Grammatik, besonders die Abschnitte zu Verben und Archaismen). GeschichteIm 4. Jahrhundert übersetzte der gotische Bischof Wulfila (auch Ulfilas, 311–382) mit einer Gruppe von Übersetzern die Bibel ins Gotische und schuf so die sogenannte Wulfilabibel. Nach dem Ende der gotischen Reiche (Ostgotenreich in Italien, 493–555, und Westgotenreich in Gallien und Spanien, 418–711) ging auch die gotische Sprache weitgehend verloren, wobei in Spanien bereits seit dem Übertritt der gotischen Herrenschicht (nur etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung waren Goten) vom Arianismus zum Katholizismus und der damit einhergehenden Vermischung der verschiedenen Volksgruppen (Romanen, Goten, Sweben, romanisierte Kelten) unter König Rekkared I. (reg. 586–601) der Gebrauch der gotischen Sprache zugunsten der frühspanischen Umgangssprache zurückging. Es sind nur ungefähr 20 Wörter im heutigen Spanischen nachweisbar, die einen sicher gotischen Ursprung haben.[3] Nur auf der Halbinsel Krim, bei dem dort zurückgebliebenen Teil der Ostgoten, den späteren Krimgoten, konnte sich das Krimgotische von der Einwanderung Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. bis in das 18. Jahrhundert halten, bevor es endgültig von der tatarischen Sprache verdrängt wurde. Umstritten ist die Verwandtschaft der gotischen Sprache mit skandinavischen Sprachen, die in der Regel mit der in der gotischen Stammes-Sage angegebenen Herkunft aus Südschweden (siehe Scandza) in Zusammenhang gebracht werden. Immerhin gibt es auffällige Ähnlichkeiten im Wortschatz des Schwedischen (insbesondere des auf Gotland gesprochenen Dialekts Gutamål) und des Gotischen, während das Gotische in morphologischer Hinsicht interessante Ähnlichkeiten zum Althochdeutschen zeigt. Gotische Dokumente und SprachdenkmälerNur wenige Zeugnisse des Gotischen sind erhalten. Sie reichen nicht aus, um die gesamte Sprache zu rekonstruieren. Die meisten gotischen Texte sind Übersetzungen aus anderen Sprachen (hauptsächlich aus dem Griechischen), so dass davon ausgegangen werden kann, dass fremdsprachige Elemente diese Texte beeinflusst haben. Der arianische Bischof Wulfila, der Haupt einer westgotischen christlichen Gemeinde in der römischen Provinz Moesia (im heutigen Bulgarien und Rumänien) war, veranlasste eine Übersetzung der griechischen Bibel ins Gotische. Die erhaltenen Teile dieser Übersetzung machen den allergrößten Teil der bis heute erhaltenen Zeugnisse des Gotischen aus. Neben großen Teilen des Neuen Testaments sind auch einige wenige Fragmente des Alten Testaments erhalten geblieben. Die Wulfilabibel ist dabei eine Übersetzung, die stilistisch – und teilweise auch grammatisch – sehr nah beim Original zu bleiben versucht, sodass es teilweise schwierig ist, zu rekonstruieren, wie die Volkssprache jener Zeit ausgesehen hat. Neben der Wulfilabibel gibt es nur wenige andere gotische Sprachzeugnisse, etwa einige Runeninschriften, die Skeireins (Bibelauslegungen), ein Bruchstück eines Kalenders und ostgotische Urkundenunterschriften aus dem 6. Jahrhundert. Neben den Quellen des Gotischen aus der Antike gibt es wenige weitere, wesentlich spätere Denkmäler des Gotischen auf der Krim. Der Status dieser Dokumente ist aber insofern umstritten, als es nicht klar ist, inwieweit diese Denkmäler allein auf das Gotische oder vielleicht auch auf andere, westgermanische Dialekte zurückgehen. Die Primärquellen für das Gotische sind: Der Codex ArgenteusDer heute in Uppsala bewahrte Codex Argenteus, auch Silberbibel genannt, umfasst einschließlich des Speyer-Fragments insgesamt 188 Blätter, die den größeren Teil der vier Evangelien enthalten. Es handelt sich um die umfangreichste Dokumentation des Gotischen in einem zusammenhängenden Text. Die Codices Ambrosianus und TaurinensisDer Codex Ambrosianus (Mailand) und der Codex Taurinensis (Turin): fünf Teile, insgesamt 193 Blätter. Es handelt sich um das besterhaltene Manuskript einer Wulfilabibel aus dem 6. Jahrhundert (von den nördlichen Ostgoten überliefert) aus dem heutigen Italien. Dieser Codex enthält einen langen Auszug aus den vier Evangelien. Da es sich um eine Übersetzung aus dem Griechischen handelt, ist es voll von Wörtern und Ausdrücken, die dem Griechischen entlehnt wurden. Die Syntax ist sehr eng an die griechische angelehnt. Der Codex Ambrosianus enthält verstreute Passagen aus dem Neuen Testament (einschließlich einiger Teile der Evangelien und Episteln), aus dem Alten Testament (Nehemiah) sowie einige Kommentare, bekannt als Skeireins. Es ist daher wahrscheinlich, dass der Text von den Kopisten in gewissem Umfang verändert wurde. Weitere CodicesEs handelt sich um Fragmente der Wulfilabibel.
Andere Quellen
LautlehreDas Gotische kennt fünf kurze[9] und sieben lange Vokale:[10]
Von den germanischen Diphthongen ist nur noch Historia Augusta (ca. 360(?), also wahrscheinlich zur Zeit Wulfilas) Austrogothi; die o für au sind alle jünger. Ob noch im 6. Jahrhundert bei Jordanes Gapt, dessen p vielleicht wie [w] ausgesprochen wurde, für Gaut stehen könnte, ist ungewiss. Auch ai ist zumindest bis 400 erhalten (Gainas, Radagaisus). Der Ring von Pietroassa hat hailag. Das während der Wandalenherrschaft in Afrika, also ca. 430–530, entstandene Gedicht De conviviis barbaris der Anthologia Latina hat eils, also ebenfalls Diphthong. Die Wiedergabe griechischer Wörter im Bibelgotisch spricht hingegen für eine monophthongische Aussprache (z. B. Pawlus); e und o sind also immer lang, auch wenn sie nicht durch Akzente gekennzeichnet sind. Langes „i“ wird durch ei dargestellt. <iu> erhalten. Einige Forscher nehmen an, dass die germanischen Diphthonge ai und au in Wulfilas Sprache immer noch als bzw. ausgesprochen wurden; eine andere Ansicht ist, dass sie monophthongiert worden waren. In den gotischen Namen schreiben die lateinischen Schriftsteller dafür einen Monophthong ab dem 4. Jahrhundert (Austrogoti > Ostrogoti). Allerdings schreibt dieDie Konsonanten sind:
Lautlich (phonologisch) hat sich vom Urgermanischen zum Gotischen weniger verändert als zu den übrigen altgermanischen Sprachen. Dies hängt sehr wahrscheinlich auch damit zusammen, dass die Überlieferung des Gotischen – mit Ausnahme der urnordischen Runeninschriften – fast dreihundert Jahre vor der Überlieferung der anderen germanischen Sprachen einsetzt. Die folgenden Lautgesetze werden angewandt:
Die spanische Sprache verfügt über einige Laute, die im Germanischen, nicht aber im Lateinischen als Grundlage des Spanischen vorhanden waren: [ ], [ ], [ ], [ ] und [ ]. Möglicherweise wurden diese Phoneme aus dem (West-)Gotischen ins Iberoromanische importiert. Wolfram Euler geht davon aus, dass dieser Import durch westgotische Muttersprachler erfolgte und „dass die Aussprache des heutigen Spanischen hinsichtlich seines Phonembestandes also auf ein mit germanischem Akzent gesprochenes Iberoromanisch zurückgeht“.[13] Aus hispanistischer Sicht ist diese Hypothese allerdings unhaltbar, da die entsprechenden Laute im Altspanischen noch nicht vorhanden waren, sich erst im Mittelspanischen in dieser Form entwickelt haben und z. T. keineswegs Bestandteil der spanischen Koiné sind (Allophonie). GrammatikIm Gotischen gibt es dieselben vier Fälle (Kasus) wie im Deutschen: Nominativ zur Bezeichnung des Subjektes, Genitiv, Dativ und Akkusativ zur Bezeichnung des direkten Objektes (vgl. Patiens). Ein Instrumental ist (anders als im Althochdeutschen) nur bei einigen Pronomen erhalten. In den Substantivklassen, die im Nominativ Singular die Endung -s haben, ist der Vokativ identisch mit dem Akkusativ. PersonalpronomenDie Deklination der Personalpronomina im Gotischen:
Der Stern (*) bezeichnet erschlossene, nicht belegte Formen. SyntaxIn der Bibelübersetzung ist die Satzstellung häufig an das griechische Vorbild angeglichen, was zeigt, dass die Satzstellung offenbar keinen allzu festen Regeln unterworfen war wie etwa im Englischen. Wie in allen germanischen Sprachen werden die Elemente, die als (Adjektiv-)Attribut fungieren, vorangestellt: sa alþa wulfs „der alte Wolf“. Der bestimmte Artikel sa, sô, þata ist noch nicht (wie im Altgriechischen) zum bloßen Formwort degradiert, einen unbestimmten Artikel gibt es nicht. Das Personalpronomen als Subjekt ist nicht immer obligatorisch. Entscheidungsfragen können durch die (enklitische) Partikel -u gebildet werden: niu qimis þu? „kommst du nicht?“; wird eine Verneinung als Antwort erwartet, benutzt man ibai: ibai qimis „du kommst nicht, oder?“. SubstantiveGotische Substantive lassen sich in etwa ein Dutzend verschiedener Klassen einteilen, von denen die meisten Klassen im Neuhochdeutschen nicht mehr existieren. Ein Deklinationsbeispiel anhand des Substantives sunus „Sohn“ (u-Stamm): Singular Plural Singular Plural Nominativ sunus sunjus „(der) Sohn – (die) Söhne“ Genitiv sunaus suniwê „(des) Sohnes – (der) Söhne“ Dativ sunau sunum „(dem) Sohne – (den) Söhnen“ Akkusativ sunu sununs „(den) Sohn – (die) Söhne“ Vokativ sun(a)u! (sunjus!) „(o/du) Sohn! – (o/ihr) Söhne!“ Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit mit der litauischen Sprache: sūnus, sūnaus, sūnui, sūnų, sūnau! Die gotischen Substantivklassen („Stämme“)Klasse Unterteilungen Geschlecht Beispiel Vokalische Stämme: a-Klasse a, ja, wa maskulin, neutral dags „Tag“, hlaifs „Brot“ ô-Klasse ô, jô, wô feminin giba „Gabe“ i-Klasse – maskulin, feminin gasts „Gast“ u-Klasse – alle sunus „Sohn“ Konsonantische Stämme: n-Klasse an-Stämme maskulin, neutral hraba „Rabe“ (m.), hairtô „Herz“ (n.) ôn-Stämme feminin tungo „Zunge“ în-Stämme feminin managei „Menge“ r-Klasse – maskulin, feminin broþar „Bruder“ nd-Klasse – alle nasjands „Retter“ Wurzelflektierende Stämme alle baurgs „Burg, Stadt“ Die Deklination der einzelnen Klassen ist weder einheitlich noch frei von Unregelmäßigkeiten, zusätzlich gibt es noch Unterklassen (z. B. die ja- und wa-Stämme) – einige Klassen umfassen sogar nur eine Handvoll Substantive (z. B. gibt es nur einen neutralen u-Stamm: faihu „das Vieh“). Deshalb wird hier nur die Deklination der regelmäßigen Substantive in den häufigsten Klassen beschrieben (von oben nach unten: Nominativ – Genitiv – Dativ – Akkusativ, links Singular, rechts Plural): a-Stämme o-Stämme i-Stämme an-Stämme maskulin hlaifs * hlaibos giba gibos gasts* gasteis hraba hrabans hlaibis hlaibe gibos gibo gastis gaste hrabins hrabane hlaiba hlaibam gibai gibom gasta gastim hrabin hrabam hlaif * hlaibans (= Nominativ) gast* gastins hraban (= Nominativ) * Vor -s und am Wortende tritt „Auslautverhärtung“ ein: b>f, d>þ, g>h. „Brot“ „Brote“ „Gabe“ „Gaben“ „Gast“ „Gäste“ „Rabe“ „Raben“ VerbenFast alle gotischen Verben werden nach dem urindogermanischen Prinzip der sogenannten „thematischen“ Konjugation flektiert, das heißt, sie setzen einen sogenannten Themavokal zwischen Wurzel und Flexionssuffix ein. Die für das Indogermanische rekonstruierten Themavokale sind *e und *o, im Gotischen sind sie weiterentwickelt zu i und u. Die andere, „athematische“ Konjugation, bei der Suffixe direkt an die Wurzel angefügt werden, existiert im Gotischen nur noch beim Verb wisan „sein“ sowie bei einigen Klassen der schwach deklinierten Verben (z. B. behält das Verb salbôn „salben“ seinen Stamm salbô- stets unverändert bei, es treten keine Themavokale hinzu wie z. B. bei baíran (s. u.)). Das athematische Verb wisan zeigt im Indikativ Präsens wie in allen indogermanischen Sprachen viele Unregelmäßigkeiten aufgrund des Wechsels von Normal- und Schwundstufe:
Wie in allen germanischen Sprachen gibt es zwei Gruppen von Verben, die als „stark“ bzw. „schwach“ bezeichnet werden. Schwache Verben bilden das Präteritum durch das Suffix -da/-ta, starke durch Ablaut:
ArchaismenDas Gotische hat einige archaische Elemente aus urindogermanischer Zeit bewahrt: Zum einen zwei Dualformen („wir beide“ und „ihr beide“), zum anderen ein synthetisches (Medio-)Passiv im Präsens:
Anmerkungen: Die ich-Form ist im Passiv durch die 3. Person Singular ersetzt worden. Im Plural ersetzt die 3. Person die wir- und ihr-Form. Im Folgenden wird auf die Dual- und Passivformen nicht weiter eingegangen. Starke Verbenbaíran „tragen“
Schwache VerbenDie schwachen Verben werden in vier Gruppen eingeteilt, getrennt durch den Themavokal:
Sprachbeispiel: VaterunserDer Text des Vaterunsers (Mt 6,9–13 EU) ist im Codex Argenteus auf fol. 4 recto, letzte Zeile, und auf fol. 5 verso, Zeilen 1 bis 12, zu finden. Der nachfolgenden Abschrift ist eine Transliteration beigefügt. Zur genaueren Beschreibung der Schriftzeichen, Interpunktion und Worttrennung des Vaterunsers siehe Artikel Gotisches Alphabet. Wörtliche Übersetzung:
Aussprache: þ wie englisches stimmloses th Siehe auch: Codex Argenteus, Gotisches Alphabet, Wulfilabibel LiteraturHand- oder Lehrbücher und Grammatiken
Textausgaben
Wörterbücher
Weitere Forschungsliteratur
WeblinksWikibooks: Gotisch – Lern- und Lehrmaterialien
Wikisource: Gotische Sprache – Quellen und Volltexte
Einzelnachweise
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